Das Haus der 20.000 Bücher
Oder ihrem Kindheitsund Schulfreund und schließlich auch Nachbarn Wynn Moss –, tja, dann wusste Chimen, wo die Tür war. In der Küche ging es ungezwungen zu, hier schaute man „auf eine gute Tasse Tee herein“; hier regierte Mimi – und sie kämpfte darum, dass es so blieb. Es war das einzige Zimmer des Hauses, in dem Mimi eine gewisse Privatsphäre beanspruchen konnte, und deshalb nahm sie Anfang 1965 vermutlich in ihrer Küche Platz, um heimlich zwei Briefe an Isaiah Berlin zu schreiben, in denen sie ihn inständig bat, Chimen zu dem innig ersehnten Posten in Oxford zu verhelfen. Und aller Wahrscheinlichkeit nach las sie ebenfalls an ihrem Küchentisch Berlins entmutigende Antwort: Wie intelligent Chimen auch immer sei, er könne kaum erwarten, eine seiner Begabung entsprechende Stelle zu finden, da es ihm an den notwendigen Befähigungsnachweisen fehle.
Mimi selbst war beruflich erfolgreich: Als ihre Kinder noch sehr klein waren, hatte sie sich am Walthamstow Polytechnic als Sozialarbeiterin ausbilden lassen und dann, von 1956 bis 1959, psychiatrische Sozialarbeit an der London School of Economics studiert. Darauf fand sie eine Anstellung im National Hospital for Nervous Diseases in Maida Vale, bevor sie ins Royal Free Hospital überwechselte. Als ich auf die Welt kam, war sie zur Leiterin der Abteilung für psychiatrische Sozialarbeit aufgestiegen.
Die Küche im Hillway war nicht nur Mimis kulinarisches Reich, sondern auch ein Bestandteil ihrer Berufswelt: Dort hielt sie improvisierte Therapiesitzungen am Telefon ab, während sie in der einen Hand den Hörer hielt und mit der anderen eine Suppe umrührte. Mimi sprach häufig mit Psychiatriepatienten. Sie hatte keine Bedenken, Menschen, die paranoid oder schizophren sein mochten, ihre Privatnummer zu geben. Hin und wieder wurde sie zwar sogar körperlich angegriffen, doch das schien ihr keine Angst zu machen. Für Mimi, die zutiefst von den Grundsätzen des staatlichen Gesundheitsdienstes überzeugt war, gehörte so etwas zum Tagewerk; solche Schläge nahm man klaglos hin. Ihr Leben lang, ob mit oder ohne Parteibuch der KP, sehnte sie sich nach Gemeinschaft. Nachdem weder Politik noch Religion ihr diese bieten konnten, erschuf Mimi sie eben in ihrem eigenen Haus und durch ihre Arbeit. Und diese Gemeinschaft war so umfassend und freigebig, wie man es sich nur wünschen konnte. Dieses Bedürfnis verband Mimi und Chimen und ließ beide in meiner Kindheit in Zorn über die konservative Premierministerin Margaret Thatcher geraten, die bekanntlich erklärt hatte, eine Gesellschaft gebe es nicht. Eine solche Weltanschauung lief den innersten Überzeugungen meiner Großeltern zuwider und ließ sie manchmal vor Wut schäumen.
Seit ich denken kann, war Mimis Gefriertruhe immer zum Bersten gefüllt: mit Weißfischfilets; mit Räucherlachs; mit KitKat-Riegeln, die in der Kälte köstlich knackig blieben; mit zweifelhaften Erfindungen wie Milchlollis und Pappkartons mit Orangensaftkonzentrat; mit Lammkoteletts und riesigen Enten. Rechts neben der Gefriertruhe stand ein ebenso voller Kühlschrank. Er enthielt Obst, Gemüse, große Gefäße mit eingelegtem Hering, noch mehr Räucherlachs, das Fleisch, das an dem jeweiligen Tag zubereitet wer- den sollte, und eine Unmenge von Naschereien: Pralinenschachteln, übersüßte Schokoladenorangen, Kuchen, Strudel und sonstige Leckerbissen, die Besucher Mimi mitgebracht hatten.
Links von der Gefriertruhe befand sich ein verchromter Brotkasten, der stets Challa und schweres russisches Graubrot in Scheiben, häufig auch Pumpernickel und Schwarzbrot enthielt. Auf das Brot strich man entweder reichlich Marmite oder träufelte klebrigen Honig aus einem Halbliterglas darauf oder belegte es dick mit Räucherlachs oder Salzhering. Besonders für Chimen waren Hering und Graubrot eng mit seiner Kindheit verknüpft. Neben dem Brotkasten standen verschiedene Schachteln mit Frühstücksflocken für die unterschiedlichen Geschmäcker von Mimis Enkeln. Eine Schublade unter dem Brotkasten war mit einem Besteck für Fleischspeisen, eine andere mit einem etwas anders gefertigten Besteck für Milchspeisen gefüllt. In Schränken über dem Herd, der Waschmaschine und dem Trockner lagen Tellerund Schüsselgarnituren, gleichfalls in zweifacher Ausfertigung. In die Lücken hatte Mimi weitere Lebensmittel gestopft: Dosen mit Keksen, Päckchen knusprig-süßer Löffelbiskuits und Pralinenschachteln, die gleichfalls von Besuchern stammten. In den unteren Schränken waren die Töpfe und Pfannen verstaut, sorgfältig nach Verwendung getrennt, damit sie nicht von den falschen Speisen verunreinigt wurden.
In der Küche weigerte sich die Tradition zu sterben, und zwar hartnäckiger als in jedem anderen Zimmer des Hauses.
Mimi und Chimen führten also ein streng koscheres Haus, in dem sie regelmäßig militant nichtreligiö- se Tischgäste bewirteten – Beleg für die Widersprüche zwischen dem Persönlichen und dem Politischen, zwischen ihrer jüdischen Identität in kultureller Hinsicht und ihrer Ablehnung der Religion. Gewiss, sie glaubten, wie Marx in seiner
Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie
geschrieben hatte, dass Religion das Opium des Volkes sei; ja, sie hielten religiöse Rituale generell für Hokuspokus. Das zeigt sich auch in einer Episode aus Chimens Leben, der einzigen Gelegenheit, bei der er nach eigenem Bekunden betrunken war: Auf der Hochzeitsfeier eines Cousins im damaligen Palästina hatte er im Rausch die „Internationale“gesungen und musste hinausgetragen werden. Der Text, 1871 von einem Pariser Kommunarden verfasst und von Pierre De Geyter schwungvoll vertont, war zur kommunistischen Hymne geworden – mehr noch, bis 1944 diente das Lied auch als Nationalhymne der Sowjetunion. Der in zahlreiche Sprachen übersetzte Text prangerte die Brutalität des Kapitalismus an und versprach die Erschaffung einer neuen und gerechteren Welt. In der deutschen Fassung ermuntern die Sänger die unterdrückten Massen:
Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt!
Das Recht wie Glut im Kraterherde nun mit Macht zum Durchbruch dringt.
Am Ende jeder der drei Strophen hieß es im Refrain: Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.
(Fortsetzung folgt)