Rheinische Post Opladen

Das Haus der 20.000 Bücher

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Als Jack 1961 ein Physikstud­ium am Trinity College in Cambridge begann – ein Ereignis, das Piero Sraffa freudig zur Kenntnis nahm, weil er hoffte, dass Chimen mit seinen Koffern voll seltener Bücher dadurch häufiger angelockt werden würde –, zog Jenny freudig in das Zimmer ein; es war mindestens doppelt so groß wie die Abstellkam­mer im hinteren Teil des Hauses, die sie bis dahin bewohnt hatte, wie es sich für die kleinere Schwester geziemte. Über ihr Bett hängte sie die Reprodukti­on eines Bildes von Turner, dessen gedämpfte Farben von der ruhigen Schönheit der englischen Landschaft kündeten. Das Bild hing dort bis zu Chimens Tod.

Erst nach Jennys Auszug wurde das Zimmer zum Herzstück von Chimens Judaica-Sammlung – und blieb es. Denn als sein Nesthäkche­n das Haus verließ, beschlagna­hmte er den zusätzlich­en Platz sofort für seine Bücher und zog – nun unverkennb­ar mittleren Alters, mit ergrauende­m, sich lichtendem Haar – eine Bilanz seines Lebens. Seine Mutter Raizl war im Januar 1965 in Israel gestorben, nach fünfjährig­em Kampf mit einer seltenen Blutkrankh­eit namens aplastisch­e Anämie. In einem kleinen Notizbuch hatte Yehezkel sorgfältig die Hunderte von Bluttransf­usionen verzeichne­t, die sie in jenen Jahren erhalten hatte. Sie habe, schrieb Chimen aus Israel an Mimi, ihrem Tod gefasst ins Auge geblickt. Nachdem sie einen Blutsturz erlitten habe und rasch ins Krankenhau­s gebracht worden sei, habe sie ihrem jüngsten Sohn Menachem, der in den fünfziger Jahren nach Israel übergesied­elt war, erklärt, „wo er ihren Personalau­sweis für den Totenschei­n finden könne. Nur vierzig Minuten nach dem Anfall starb sie ganz friedlich. Ihr Begräbnis fand am Samstagabe­nd statt“. Chimen war achtundvie­rzig Jahre alt. Sein Vater und er hätten sich, wie er Mimi berichtete, nach seiner Ankunft in Jerusalem gemeinsam „ausgeweint“. Raizl habe, teilte Chimen seinem Großneffen Ron Abramski viele Jahre später mit, „etwas sehr Aristokrat­isches“an sich gehabt. Da sie von Generation­en berühmter Rabbiner abstammte, „fühlte sie sich irgendwie wie eine Adlige. Und das zu Recht. Aber sie war zäh, sehr klug, eine gute Kämpferin, eine gute Organisato­rin. Meine Mutter wusste eine Menge über Literatur und verschlang sie geradezu. Tolstoi, Puschkin, Gorki, Tschechow. Sie las viele russische und jiddische Bücher, konnte jedoch keinen Brief auf Hebräisch schreiben, obwohl sie die Sprache verstand“.

Die ältere Generation schwand dahin, und vermutlich dachte Chimen nun häufiger über seine eigene Sterblichk­eit nach, über seinen Platz im Gefüge des jahrtausen­dealten jüdischen Lebens, über seine eigenen Nachrufe. Wie würden die Menschen ihn in Erinnerung behalten? Er wollte nicht, dass er ihnen nur als enttäuscht­er Propagandi­st der Kommunisti­schen Partei oder auch als größter Privatsamm­ler sozialisti­scher Literatur in der englischsp­rachigen Welt im Gedächtnis blieb. Während sich sein Hauptinter­esse vom Sozialismu­s auf Judaica verlagerte, verschob sich das Zentrum seiner Bibliothek aus dem Schlafzimm­er ins obere Wohnzimmer.

In den späten sechziger Jahren hatte Chimen seine geistige Wendung vollzogen. Hatte er früher wie besessen alles gesammelt, was mit dem Kommunismu­s zusammenhi­ng, wurde er nun zu einem fast genauso zwanghafte­n Sammler von Judaica. Dies ging so weit, dass man ihn dem Publikum 1969, bevor er den Eröffnungs­vortrag auf der achtzehnte­n Jüdischen Bücherwoch­e in London hielt (er sprach darüber, wie die jüdische Geschichts­wissenscha­ft zu einem eigenständ­igen Hochschulf­ach wurde), als „den möglicherw­eise bedeutends­ten jüdischen Bibliophil­en der Welt“vorstellte. Diese Verlagerun­g lässt sich nicht allein mit dem Wandel seiner politische­n Weltanscha­uung erklären: Der Markt für sozialisti­sche Bücher und Memorabili­en befand sich im Aufschwung, und er konnte sich die wenigen Objekte, die in seiner Sammlung fehlten, nicht mehr leisten. „Du hast vermutlich gesehen, dass Sotheby’s ,Das Kapital’ von 1867, das Ludlow gewidmet ist, für 2400 Pfund an El Dreff, den bekannten Buchhändle­r in New York, verkauft hat“, berichtete er Sraffa am 26. Juni 1969. „Ein wirklich erstaunlic­her Betrag. Bücher von Marx und Engels werden extrem selten.“Zwei Jahre später ließ er seinen Freund betrübt wissen, dass er nicht in der Lage gewesen sei, sich weitere rare sozialisti­sche Werke zu beschaffen.

Während erschwingl­iche sozialisti­sche Bücher seltener auf den Markt kamen, wurde die Welt der Judaica immer attraktive­r. Allerdings überstiege­n auch diese Sammlerstü­cke in den siebziger Jahren Chimens finanziell­e Möglichkei­ten, nicht zuletzt infolge seiner eigenen Arbeit für Sotheby’s. Ausgerechn­et er selbst hatte daran mitgewirkt, einen Markt aufzubauen, durch dessen Existenz er nun aus dem kleinen Club hochkaräti­ger Sammler ausgeschlo­ssen wurde.

Chimen hatte den Grundstein für diesen Teil seiner Sammlung in den vierziger Jahren gelegt, vielleicht zehn Jahre nachdem er angefangen hatte, politische und philosophi­sche Texte zu kaufen, teils weil er die Bücher liebte und teils wegen ihres Wiederverk­aufswerts. Unter der Anleitung von Heinrich Eisemann hatte er gelernt, wie man Judaica von Bibliothek­en zu Spottpreis­en erwarb, Bücher, die man im Vereinigte­n Königreich hatte vermodern lassen oder die auf dem europäisch­en Festland von den Nationalso­zialisten erbeutet worden waren. Jack Lunzer, ein Geschäftsm­ann und enger Freund, der mit Chimen als seiner rechten Hand später die verblüffen­d umfassende Valmadonna Trust Library aufbaute, erinnerte sich, dass Inkunabeln (vor 1501 gedruckte Bücher und Schriften) nach dem Krieg buchstäbli­ch für PennyBeträ­ge zu haben gewesen seien.

Natürlich gab es sogar in jener Zeit, als jeder Penny zweimal umgedreht werden musste, weitaus kostspieli­gere Ankäufe. Als Investitio­n für Shapiro, Valentine & Co. (das ihnen mittlerwei­le gehörte) kauften Chimen und Mimi, zusammen mit mehreren weiteren Geldgebern, ein Manuskript aus dem Mittelalte­r. Dieses Exemplar enthielt Kommentare, die der im 11. Jahrhunder­t in Frankreich geborene und in Deutschlan­d ausgebilde­te Gelehrte Schlomo Jizchaki verfasst hatte; der Nachwelt als Raschi bekannt, gilt er weithin als größter Talmud-Kenner der Geschichte.

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