Rheinische Post Opladen

Die Welt ist auch nur ein Dorf

Der US-amerikanis­che Bestseller­autor Paul Auster sammelt wahre Geschichte­n über die seltsamen und fast unglaublic­hen Wechselfäl­le des Lebens: „Das rote Notizbuch“erscheint jetzt erstmals vollständi­g übersetzt.

- VON FRANK DIETSCHREI­T

Das Leben hängt am seidenen Faden, der Zufall regiert die Welt, und wer du bist und was du wirst, hängt oft allein davon ab, welche Entscheidu­ng du an einer unscheinba­ren Wegmarke triffst oder ob du die Telefonnum­mer wählst, die auf einem Zettel notiert ist, den du im Hotel unter einem Stuhl findest. Es gibt wohl kaum ein Buch des jüdischame­rikanische­n Autors Paul Auster, in dem der Zufall nicht eine entscheide­nde Rolle spielt und darüber wacht, ob die Protagonis­ten weiter in einer Welt leben dürfen, die ohnehin nicht aus Wirklichke­it, sondern aus Sprache gebaut ist.

Zuletzt hatte Auster in seinem 1200-seitigen Opus magnum „4, 3, 2, 1“sein Lebensmott­o und Schreibimp­uls – „Was wäre geschehen,

Unser Schicksal ist ungewiss, aber es hat einen Namen: Zufall

wenn…“– am Beispiel von Archibald Ferguson gleich viermal durchgespi­elt und furios vorgeführt, welche Variatione­n möglicher Identitäte­n eine Lebensgesc­hichte haben kann, wenn man an einer bestimmten Stelle aus dem Tritt gerät, dem Schicksal in die Quere kommt oder dem Tod noch einmal von der Schippe springt.

Paul Auster ist 14, als ihm schmerzlic­h bewusst wird, wie wenig ein Leben wiegt und wie schnell es vorbei ist: Bei einer Jugendfrei­zeit geraten er und ein Freund in ein heftiges Gewitter. Während sein direkt neben ihm stehender Freund vom Blitz erschlagen wird, kommt Paul mit dem Schrecken davon. Auster hat dieses traumatisc­he Erlebnis oft erzählt und vielfach literarisc­h variiert. Natürlich findet sich diese Geschichte auch in der Sammlung seltsamer Wechselfäl­le des Lebens, die er schon vor Jahren unter dem Titel „Das rote Notizbuch“veröffentl­icht hat und die jetzt erstmals vollständi­g auf deutsch erscheint: Auster berichtet von kuriosen Begegnunge­n und oft bizarren Zufällen, vollkommen verrückt erscheinen­den Ereignisse­n, die jeder Logik spotten und doch, darauf besteht er mehr- fach, nicht erfunden, sondern tatsächlic­h wahr sind.

Als es ihm in jungen Jahren einmal besonders dreckig geht und er als unbekannte­r Autor fast am Verhungern ist, taucht im letzten Moment ein Retter am Horizont auf und will ihn unbedingt zum Essen einladen. Als er sich einmal abends im Stadion bei einem Baseballsp­iel bückt, um eine am Boden liegende Münze aufzuheben, ist es – das kann eigentlich nicht sein – dieselbe Münze, die er morgens vor seinem Haus in Brooklyn verloren hat.

Das vergriffen­e Buch, nach dem sein Freund seit langem vergeblich sucht, taucht plötzlich in den Händen einer fremden Frau auf, die es gerade auf der Straße, lässig an ein Marmorgelä­nder gelehnt, liest. Als der Freund die Frau anspricht und ihr erzählt, wie sehr ihm an dem Buch liegt, antwortet sie: „Nehmen sie meins.“Und als der überrascht­e Mann zur Frau sagt: „Aber das gehört doch Ihnen“, meint die Frau nur lächelnd: „Es hat mir gehört, aber jetzt bin ich damit fertig. Ich bin heute hierher gekommen, um es Ihnen zu schenken.“

Es sind nicht nur ganz und gar unglaublic­he, sondern auch unglaublic­h schöne und verwirrend­e Geschichte­n, die Auster aus seinen Erinnerung­en ans Tageslicht emporzieht und die von Menschen erzählen, die auf wundersame Weise mit seinem Leben verbunden sind. Eine handelt von zwei jungen amerikanis­chen Frauen, die in Taiwan Chinesisch studieren und feststelle­n, dass ihre in New York lebenden Schwestern sich zwar (noch) nicht kennen, aber im gleichen Haus wohnen. Eine heißt Siri Hustvedt. Auster wird sie kennenlern­en und heiraten. Beide werden viele Jahre später von einer fremden Frau in einer Buchhandlu­ng angesproch­en, die ihnen erklärt, dass ihre Schwester und Siris Schwester zusammen in Taipeh studiert haben.

Die Welt ist ein Dorf. Und der Mensch ist klein. Aber die Literatur ist groß. Und Paul Auster ist einer der großen Autoren, einer, der in den Falten der Zeit das Verdrängte und in den Schwarzen Löchern der Fantasie das Vergessene sucht und uns davon erzählt, warum das Schicksal ungewiss ist, aber einen Namen hat: Zufall.

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FOTO: LAIF Der Schriftste­ller Paul Auster daheim in Brooklyn.

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