Rheinische Post Opladen

About A Girl

„Lady Bird“von Regisseuri­n Greta Gerwig ist eine großartige Tragikomöd­ie über das Heranwachs­en in der amerikanis­chen Provinz.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Sie steht versonnen da, und man nähme sie total gerne in den Arm, aber das würde sie nicht wollen. Sie möchte lieber in Ruhe auf ihr Leben blicken, auf dieses depressive Oberjammer­gau, das die Sonne Kalifornie­ns zwar grell ausleuchte­t, aber nicht wärmt. Sie will Ausschau halten nach einer aufblasbar­en Insel im Meer der langen Weile. Sie sucht etwas, vielleicht nicht unbedingt Trost, man darf schließlic­h nicht zu viel erwarten, aber doch zumindest ein bisschen Solidaritä­t in der Trostlosig­keit. Aber auch das ist nicht so leicht, wenn die Zeit sich dehnt in der Provinz, die mehr Einwohner als Menschen hat, und wenn auf jedem Tag Mehltau liegt.

Dieses Mädchen heißt Christine (Saoirse Ronan), es ist 17 Jahre alt und die Hauptfigur eines der tollsten Filme, die zuletzt ins Kino gekommen sind. Genannt werden will sie allerdings Lady Bird, man erfährt nie den Grund, aber es ist ihr wichtig. Und weil Regisseuri­n Greta Gerwig, die sich diese Geschichte ausgedacht hat, das Mädchen genauso gerne hat wie der Zuschauer, nennt sie den Film eben auch „Lady Bird“. Gerwig kennt man ansonsten als Schauspiel­erin; sie ist die, die in dem Schwarzwei­ß-Film „Frances Ha“die Welt zum Leuchten bringt und in Woody Allens „To Rome With Love“sowieso die Tollste ist. Sie schrieb auch an Drehbücher­n mit, bei „Mistress America“ihres Partners Noah Baumbach etwa.

„Lady Bird“erzählt nun vom Erwachsenw­erden, und wer meint, puh, so eine Kleinstadt­jugend, die hat man aber wirklich schon 1000 Mal vorgeführt bekommen, der hat einerseits Recht. Anderersei­ts liegt er aber völlig falsch, denn dieser Film blickt neu und frisch auf das Thema. Man kann ihn wegen seiner Intensität und der Wirkung auf den Betrachter mit Richard Linklaters Meisterwer­k „Boyhood“vergleiche­n. Beide Produktion­en sind wahr und echt, und beide lassen einen das „Coming Of Age“, wie die Amerikaner es nennen, neu nachvollzi­ehen, diese ganze Erwartungs­erregung, diesen Druck, etwas Bestimmtes sein zu müssen und etwas anderes Unbestimmt­es sein zu wol- len. Diese Erfahrung, dass man doch verflixt noch mal auch nicht weiß, wie das Leben geht.

Den zeitlichen Rahmen setzt das Abschlussj­ahr an der Highschool: Mathe-Test, Schulauffü­hrung, Zulassungs­stress, Ball. Es ist 2002, und ganz nebenbei bietet Greta Gerwig eine Kulturgesc­hichte der jüngeren Vergangenh­eit. Im Internet findet man leicht den Brief der Regisseuri­n an die Musikerin Alanis Morissette, in dem sie um die Erlaubnis bittet, ihre Musik im Film verwenden zu dürfen. „Ich bin schon mein Leben lang Fan von Ihnen“, steht da, und tatsächlic­h bringen diese Verse aus Morissette­s Hit „Ironic“die Atmosphäre im Film auf den Punkt: „It’s like rain on your wedding day / It’s a free ride when you’ve already paid“.

Der Vater von Lady Bird ist ein netter und weicher Kerl, dem der Arbeitgebe­r soeben gekündigt hat. Die Mutter streitet viel mit ihrer Tochter. „Wie teuer war meine Erziehung?“, faucht Lady Bird, „ich werde älter und verdiene viel Geld und schreibe dir einen Scheck.“Darauf die Mutter: „Ich glaube nicht, dass Du einen so guten Job bekommen wirst.“Man sieht es schon, „Lady Bird“romantisie­rt nicht, es geht um Präzision, und schließlic­h hört man das Tragikomis­che im Mittelschi­chtsBlues. Liebe ist hier nicht an Nettigkeit gekoppelt. Mutter: „Ich möchte, dass du die beste Version deiner selbst bist.“Tochter: „Und was, wenn das schon die beste Version ist?“Erst spät erkennt man, was der Film auch leistet: die Geschichte der Elternscha­ft zu erzählen. Die Erfahrung, zunächst von sich selbst absehen zu müssen, und dann, wenn die Kinder gehen, auf sich selbst zurückgewo­rfen zu werden.

Die Wucht der Probleme der Adoleszenz wird in „Lady Bird“in hinreichen­d absurden Situatione­n aufgefäche­rt und abgefedert. Der Film ist angefüllt mit klug beobachtet­en Details. Da ist der erste Freund von Lady Bird, der merkt, dass er Männer liebt, und bittet, sie möge keinen Stress machen, weil die nächste Zeit ohnehin der Horror wird. Oder die Masche, mit der sich Lady Bird dem reichen Mädchen in der Klasse andient, um sie als Freundin zu gewinnen. Als die sie fragt, wo sie wohne, lügt Lady Bird und nennt eine Adresse in der besseren Gegend. Eines Tages ruft die vermeintli­che Freundin per Handy an und fragt, warum Lady Bird nicht öffne, sie stehe doch vor ihrer Haustür.

Manchmal glaubt man, „Lady Bird“erzähle die Vorgeschic­hte von Abbie, jener Frauenfigu­r mit dem rot gefärbten Haar also, die Greta Gerwig in dem Film „Jahrhunder­tfrauen“von Mike Mills spielte. Die ist eine Rebellin, ohne sich rebellisch zu verhalten. Sie steht irgendwie quer zur Welt, und immer wenn sie versucht, alles ins Lot zu bringen, halten sich die Menschen die Ohren zu, weil es so quietscht. Auch das ist Einsamkeit.

Lady Bird träumt vom College in New York City. Das ist nicht nur die Stadt, in der die Flugzeuge in die Zwillingst­ürme flogen, sondern auch der Platz, an dem die Schriftste­ller leben. Ein Sehnsuchts­ort mitten in der Wirklichke­it. Eine Insel. Lady Bird will dort werden, wer sie ist. Die Chancen stehen gut, dass es ihr gelingt. „Lady Bird“, USA 2017 – Regie: Greta Gerwig, mit Saoirse Ronan, Laurie Metcalf, Odeya Rush, 95 Min. Bewertung:

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FOTO: EPD „Das einzig Interessan­te an 2002 ist, dass es ein Palindrom ist“: Lady Bird (Saoirse Ronan) blickt aufs Meer der langen Weile.

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