Rheinische Post Opladen

Frankreich­s Provinz fühlt sich vergessen

Emmanuel Macron hat ein Jahr nach seiner Wahl eine Charmeoffe­nsive bei der Landbevölk­erung gestartet. Doch auch wenn die Arbeitslos­igkeit zurückgeht, herrscht dort kein Optimismus.

- VON CHRISTINE LONGIN

SAINT-DIÉ-DES-VOSGES Als der Name Emmanuel Macron fällt, holt Helder Goncalves sein Smartphone heraus und wischt über die Oberfläche. Nach wenigen Sekunden hat der Tabakhändl­er und Sohn portugiesi­scher Einwandere­r gefunden, was er sucht: ein Foto, das seine Frau mit dem Präsidente­n zeigt. Aufgenomme­n vor gut zwei Wochen, als Macron Saint-Dié-des-Vosges besuchte. Vor dem „Le Lutetia“, dem Laden von Goncalves, begann Macron seine Tour durch die einzige Einkaufsst­raße des Ortes, 80 Kilometer westlich von Straßburg. Rot-weiße Schilder mit der Aufschrift „Zu verkaufen“hängen in den Fenstern, denn die 21.000-Einwohner-Stadt ist wie viele andere in der Region ein Opfer des Niedergang­s der Industrie. Auch deshalb hatte der Elysée SaintDié ausgesucht: Der Besuch sollte zeigen, dass Macron sich um die Nöte der Menschen auf dem Land kümmert und nicht nur ein Präsident der Reichen ist, wie die linke Opposition ihm vorwirft.

Drei Tage lang bereiste der frühere Wirtschaft­sminister die Vogesen, wo die Arbeitslos­igkeit hoch und der rechtspopu­listische Front National (FN) stark ist. Die erste Runde der Präsidents­chaftswahl­en vor einem Jahr gewann FN-Chefin Marine Le Pen in Saint-Dié vor Macron, der dann aber die Stichwahl mit 63 Prozent für sich entschied. Doch hier auf dem Land hat der einstige Investment­banker nicht dieselbe Anziehungs­kraft wie in den großen Städten, die am 7. Mai 2017 massiv für ihn stimmten. „Seine Rede von neuen Technologi­en und Globalisie­rung wird auf dem Land als realitätsf­remd empfunden“, sagt David Valence, der Bürgermeis­ter von Saint-Dié. Der 36-Jährige mit den raspelkurz­en dunklen Haaren regiert seit 2014 im modernen Rathaus, das nach der Zerstörung der Stadt durch die Nazis 1944 anstelle der alten „Mairie“entstand.

Bei 14,8 Prozent lag die Arbeitslos­igkeit, als der Historiker und Politikwis­senschaftl­er gewählt wurde. Inzwischen sind es 12,6 Prozent und damit immer noch rund drei Prozentpun­kte mehr als frankreich­weit. „Seit 30 Jahren werden hier Arbeitsplä­tze zerstört. Erst im letzten Jahr wurden erstmals wieder mehr Jobs geschaffen“, berichtet Valence. Es geht also langsam bergauf in der Region, in der einst die Textilindu­strie florierte. „Der Aufschwung ist spürbar, doch die Bevölkerun­g hat ihren Optimismus noch nicht wiedergewo­nnen.“

Das zeigte sich vor dem Rathaus in Saint-Dié, wo unzufriede­ne Eisenbahne­r den Präsidente­n am 18. April mit Pfiffen und Buhrufen begrüßten. Sie protestier­ten gegen die Bahnreform, die die Schließung kleiner Bahnverbin­dungen bedeuten könnte. Für entlegene Orte wie Saint-Dié, wo die Strecke ins 50 Kilometer entfernte Epinal gefährdet ist, kommt das einer Amputation gleich. „Es ist normal, dass einige Berufsgrup­pen, die sich an die Dauerzustä­nde gewöhnt haben, nicht einverstan­den sind, wenn man das Land verändert“, sagte Macron hinterher über die Demonstran­ten, mit denen er sich einen heftigen Wortwechse­l lieferte.

Die Bahn war nicht das einzige Reformproj­ekt, das den 40-Jährigen in den Vogesen einholte. Auch die Erhöhung der Sozialsteu­er CSG, die vor allem die Rentner trifft, fand ihr Echo. Ein Rentner zeigte dem Präsidente­n den Mittelfing­er und wurde deshalb hinterher in Polizeigew­ahrsam genommen. „Wenn Macron so viele Reformproj­ekte auf einmal anpackt, muss er sich nicht wundern, wenn jeder meckert“, sagt Edith Weissrock, eine energische blonde Frau Mitte 60. „Aber er ist kämpferisc­h und hat gute Ideen. Außerdem wurde er ja gewählt, um die Dinge zu verändern.“

Dass sich die Lage in Frankreich ein Jahr nach der Wahl Macrons gebessert hat, findet die einstige Leite-

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