Rheinische Post Opladen

Finde niemals zu dir selbst

In Ausnahmezu­stand versetzt einen normalerwe­ise nur die Musik, die man als Teenager entdeckt hat. Doch mit ihrem neuen Album „Fake“hat die Band – Die Nerven – unseren 39-jährigen Autor wieder zum Jugendlich­en gemacht.

- VON STEFAN PETERMANN

Am Tag, als Avicii stirbt, besuche ich ein Konzert der Nerven. Was heißt besuchen? Jede Faser meines Körpers steht in Flammen, und doch ahne ich, dass ich am Ende enttäuscht sein werde, weil die Erwartung vor der Wirklichke­it immer kapitulier­en muss. Und tatsächlic­h: Als Schlagzeug­er, Bassist und Gitarrist auf die Bühne schlurfen, wirken sie ungelenk: steife Bewegungen, kaum Kontakt mit dem Publikum, ein sichtliche­s Unwohlsein. Es scheint, als würde sich die Band gegen die anstehende Vereinnahm­ung sträuben. Die neue Platte „Fake“ist gerade erschienen. Dabei sind die Menschen im Publikum Gleichgesi­nnte, abgesehen von den obligatori­schen Idioten, die in jede Stille hinein „Bass-Solo“brüllen. Sie tragen AC/DC-Shirts.

Das erste Mal höre ich Die Nerven in einem Video. Vier Jahre ist das her. „Angst“ist ein schnelles, mitreißend­es Postpunkst­ück über Unsicherhe­it, Zweifel und Desorienti­erung. Im Video treten Tocotronic als Fake-Nerven in einem Jugendklub auf, der den 1990er Jahren entsprunge­n sein könnte. Die echten Nerven rotzen in ein Urinal und schauen ansonsten gelangweil­t den Mittvierzi­gern beim lippensync­hronen Performen zu. Wenn ein Algorithmu­s die ideale Musik für mich hätte programmie­ren müssen, wären Die Nerven dabei herausgeko­mmen.

„Angst“und das dazugehöri­ge Album „Fun“triggern mich, wie mich lange nichts mehr getriggert hat: die einen nie wirklich loslässt. Natürlich kannst du mit 40 Arvo Pärt entdecken, doch in Ausnahmezu­stand versetzen dich Bands, deren Texte du dir damals mit Edding auf die Unterarme geschriebe­n hast, als du dachtest, deine Empörung über die Welt ließe sich in drei Minuten fassen. Und wenn Jahrzehnte später eine Band scheiße klingt, aber so ähnlich wie damals, wird dich das mehr fesseln als „Metamorpho­sis“von Philip Glass. Weil darin glorrei- che Erinnerung­en stecken; zum ersten Mal die Erkenntnis, dass Musik der alleinige Ausdruck für etwas ganz tief in dir ist.

Mit Jugendkult­ur muss das nicht unbedingt etwas zu tun haben. An öffentlich­en Plätzen spielt die Generation ohne Namen auf ihren Bluetooth-Boomboxen Avicii, Kollegah oder Frei.Wild. Die Nerven wird man dort selten hören. Denn das, wofür sie stehen – ein grundsätzl­iches Unbehagen angesichts der Gegenwart – ist zu wenig direkt. Bei ihnen fehlt der Adressat, die plumpe Benennung eines Feindes, die Provokatio­n um der Provokatio­n willen.

Zurück zur Scham. Mit Mitte 30 springt man nicht mehr in die Luft und ruft „Die Welt ist mein Feind“. Oder doch? Und wenn, sollte ich dann nicht zumindest etwas hinzufügen, etwas, das differenzi­ert, das lebensweis­er ist? Aber ist nicht gut, was mich in direkte Raserei versetzt, gleich, ob Sonic Youth das vor 30 Jahren schon gemacht haben oder Franz Liszt im 19. Jahrhunder­t? Sind alles andere nicht soziale Erwartunge­n, wie ich mich wann zu Musik verhalten, wann ich mit etwas abgeschlos­sen haben sollte?

Entgegen aller Wahrschein­lichkeit und irgendwie doch folgericht­ig hat sich das biedere Stuttgart zu einem der Schlüsselo­rte für das moderne deutsche Unbehagen entwickelt. Die ausgemerge­lten Karies, der Shoegazer-Nihilismus von Human Abfall, All diese Gewalt, das experiment­elle Nebenproje­kt von Nerven-Gitarrist Max Rieger. Ein kleiner Kosmos des Sträubens ist dort entstanden, selbstbewu­sst in seinen Zitaten, ohne den Eigensinn so penetrant zu inszeniere­n wie Isolation Berlin.

Die Nerven sind das Epizentrum dieser Bewegung. Das Cover ihres vierten Albums „Fake“zieren flammenrot­e Artefakte eines schlecht komprimier­ten Fotos. Die Texte liefern Interpreta­tionshilfe­n zu aktuellen Ereignisse­n und sind doch offen genug, um sich komplett in sich selbst zu verlieren. „Fake“fragt: Wie kann man wütend sein, ohne zum Wutbürger zu werden? Wie Protest äußern, ohne in dumpfe Die-daoben-Parolen zu verfallen? Wie sieht Widerspruc­h aus, wenn dieser seit den ersten Gitarrenkl­ängen im Image des Künstlers eingepreis­t ist? Sollte solche Musik konstrukti­v sein oder selbstzers­törerisch?

Nach 80 Minuten ist das Konzert beendet. Das Sträuben hat sich aufgelöst, ich, die Nerven haben sich dem Unbehagen hingegeben. Die Zugabe ist „Nie wieder scheitern“, ein Stück wie brüllendes Schweigen nach einer gewaltigen Explosion.

Habe ich ein Bandshirt mit einprägsam­em Slogan gekauft? Nein. War ich vor der Bühne bei den Jungs im Moshpit? Auch nicht. Bin ich in die Luft gesprungen und habe gerufen: „Ich bin immer noch wütend, ich habe immer noch Angst, ich weiß oft nicht weiter, aber es ist okay“?

Und wie.

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FOTO: RALV MILBERG Die Nerven: Max Rieger, Kevin Kuhn und Julian Knoth (v.l.).

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