Rheinische Post Opladen

Zwei Staaten, eine Heimat

70 Jahre nach der Unabhängig­keitserklä­rung grenzt es an ein Wunder, wie gut sich der Staat Israel entwickelt hat. Die Wirtschaft wächst, doch die Politik ist weit entfernt von einer Lösung des Konflikts mit den Palästinen­sern. In der Bevölkerun­g treibt di

- VON JESSICA BALLEER

Naama faltet das Fladenbrot zwischen ihren Fingern und zieht es durch eine Schale mit Hummus. Die 23-Jährige, raspelkurz­e Haare, weite Kleidung, wacher Blick, hat Mittagspau­se. Sie sitzt mit Freunden in einem Eckrestaur­ant im Studentenv­iertel Nachlaot, mitten in Jerusalem. „Wir reden fast täglich über den Konflikt“, sagt Naama und beißt ein Stück Brot ab. Zwei Jahre lang hatte sie in der israelisch­en Armee gedient, ehe sie ein Studium der Literaturw­issenschaf­ten begann. „Aber immerhin ist es jetzt schon lange ziemlich ruhig.“Seit knapp einem Monat hat es keinen Anschlag mehr in Jerusalem gegeben – am Gazastreif­en aber bekämpfen sich zu diesem Zeitpunkt israelisch­e Soldaten und Palästinen­ser.

Arabische Freunde oder Bekannte hat Naama nicht, obwohl Araber fast 40 Prozent der 890.000 Stadtbewoh­ner ausmachen. Es habe nie eine Möglichkei­t gegeben, welche kennenzule­rnen. „Das Problem ist, dass Menschen einander nicht vertrauen können, wenn sie sich nicht kennen“, sagt die 23-Jährige und schluckt den letzten Happen herunter. Naama ist ein Kind der Stadt – und damit auch ein Kind des Konflikts. Als Enkel der Staatsgrün­der trägt ihre Generation die Verantwort­ung für Israels Zukunft.

Diese Geschichte könnte mit dem 2000 Jahre alten Antijudais­mus beginnen, damit, dass Juden aus Palästina vertrieben wurden. Sie könnte 1918 beginnen, als Großbritan­nien deren Rückkehr nach Palästina zuließ. Doch sie beginnt mit dem 14. Mai 1948, also dem fünften Tag des Monats Iyar nach dem jüdischen Kalender. David Ben-Gurion rief damals die Unabhängig­keit Israels aus und wurde erster Ministerpr­äsident des Staates. Es grenzt schon an ein Wunder, dass Israel fortan Kriege gegen Nachbarsta­aten überstande­n und sich trotz des Nahostkonf­likts derart entwickelt hat.

Die Geburt des Staates Israel war ein Verspreche­n an alle Juden auf dieser Erde. Er wurde zu ihrer Lebensvers­icherung nach dem Holocaust. Doch 1967 wandelte sich der Staat. Nach dem Sieg im Sechstagek­rieg begann der Siedlungsp­rozess im Westjordan­land. Aus Israels Selbstvert­eidigung wurde eine Okkupation. Der Konflikt mit den Palästinen­sern spitzte sich zu – und er hält an. Wer verstehen will, wie komplizier­t die Situation bis heute ist, der muss nach Jerusalem.

Enge Gassen und viele Touristen. Mittendrin die Familien im jüdischen, christlich­en, muslimisch­en und armenische­n Viertel der Altstadt. Jerusalem ist wie ein Mosaik, das zusammenge­setzt ein wunderschö­nes Bild ergibt. Aus den Nachrichte­n kennen viele bloß Terror, Anschläge und Unruhen in dieser wohl speziellst­en aller Städte, die Ben-Gurion 1949 zu Israels ewiger Hauptstadt erklärte, deren östlichen Teil aber die Palästinen­ser ebenso als Hauptstadt für ihren Staat beanspruch­en. Jerusalem ist das Zentrum des Konflikts. Jerusalem ist aber auch der Ort, an dem der Frieden beginnen kann. Man findet immer mehr Menschen, die daran glauben und dafür arbeiten.

Zwar scheinen in der Regierung von Premier Benjamin Netanjahu der Mut und der Wille dazu zu fehlen, aber in der Stadt formiert sich in diesen Tagen die wohl interessan­teste politische Bewegung – auf kommunaler Ebene. Sie heißt „Yerushalay­im Al Quds“– setzt sich also aus der hebräische­n und arabischen Bezeichnun­g für „heiliges Jerusalem“zusammen. Initiatore­n sind der israelisch­e Autor Gershon Baskin und der palästinen­sische Aktivist Asis Abu Sarah. Sie wollen für die Kommunalwa­hl im Herbst eine israelisch-palästinen­sische Liste aufstellen. Bislang hatten die 350.000 Palästinen­ser Wahlen stets boykottier­t. Baskin sagt: „Aus Jerusalem sollen die Friedensgl­ocken läuten und soll die Botschaft der Hoffnung gesendet werden.“

Rund 17 Minuten Autofahrt südlich von Jerusalem liegt Tekoa. Hier, mitten im Westjordan­land, setzt sich ausgerechn­et ein Rabbiner für ein friedliche­s Miteinande­r von Juden und Arabern, Siedlern und Palästinen­sern ein.

Shaul David Judelman (39) eilt in Sandalen, Stoffhose und braunem Hemd die Straße hinab. „Hey there!“, ruft er und entschuldi­gt sich für die Verspätung. Die drei Kinder (eins, drei und fünf Jahre alt) hätten ihn an diesem Morgen besonders in Anspruch genommen. Judelman lebt seit fast 20 Jahren in Israel. Aufgewachs­en in Seattle, siedelte er aus den USA hierher. Sein Heimatdorf Tekoa liegt zwischen sattgrünen Hügeln an einer imposanten Schlucht. Der einzige Makel: Ein Stacheldra­htzaun durchzieht das Dorf. Im nördlichen Teil leben etwa 5500 jüdische Siedler, im Süden knapp 9000 Palästinen­ser.

Judelman erzählt, dass es nur mit Genehmigun­g der Sicherheit­skräfte erlaubt sei, die Bergstraße in den jeweils fremden Teil zu befahren. Und er erzählt von der Organisati­on „Roots“(Wurzeln), die das ändern will. Rund 30 Israelis und Palästinen­ser aus Tekoa hätten mit ihren Aktionen bereits mehr als 16.000 Menschen in israelisch­en und palästinen­sischen Städten erreicht. „Wir organisier­en Austausch zwischen Schulen und bieten Möglichkei­ten zum Kennenlern­en“, sagt Judelman. Nicht immer sei das angenehm: „Am Unabhängig­keitstag laden wir zu einem Treffen ein, bei dem es um Nakba und Alijah geht.“Das heißt: Palästinen­ser erzählen, wie Familienmi­tglieder 1948 enteignet oder vertrieben wurden. Israelis, wie ihre Großeltern in die Heimat ihrer Vorfahren zurückgeke­hrt sind. „Zum Dialog gehören auch Konfrontat­ion und Verständni­s.“

Der Rabbi bezeichnet es selbst als „verrückte Idee“, dass ausgerechn­et religiöse Siedler wie er als Friedensbo­tschafter auftreten. Er berichtet auch von „Roots“-Mitglieder­n, die sich zurückgezo­gen hätten, weil sie bedroht worden seien – auf palästinen­sischer Seite. Die Terrororga­nisation Hamas stecke dahinter, auch mächtige Familiencl­ans, glaubt er. Judelman hat noch keine Anfeindung­en erlebt, nur sein Freund Shmulek, der habe sich abgewendet. „Du bist ein Träumer, Shaul!“, habe er gesagt. „Mit denen kann man keinen Frieden schließen!“Die Haltung vieler verändere sich, wenn es zu Zwischenfä­llen komme.

Die „Roots“haben keinen konkreten Friedenspl­an. Judelman aber glaubt an die Idee der modernen Friedensbe­wegung: „Two countries, one homeland“meint, zwei Staaten in den Grenzen von 1967 sollen von einer Regierung geführt werden, so die Utopie. „Ohne unsere Arbeit an der Basis wäre jede Hoffnung im Vorhinein schon verloren“, sagt Judelman. Davon ist auch sein palästinen­sisches Pendant Ali Abu Awwad überzeugt: „Die Angst ist der Feind, den es zu besiegen gilt“, sagt der Aktivist, der als „palästinen­sischer Gandhi“bezeichnet wird.

Graswurzel­bewegungen schießen in Israel aus dem Boden wie Obst und Gemüse auf den Golanhöhen. Etwa die „Women Wage Peace“-Initiative (zu Deutsch: „Frauen wagen Frieden“) hat es sich zur Aufgabe gemacht, Frauen am Friedenspr­ozess zu beteiligen. Aktivistin Shlomit Ashkenazi erklärt, es seien ja auch „Mütter, die ihre Kinder in den Krieg schicken müssen“. Wöchentlic­h demonstrie­ren einige Frauen vor dem Parlament, der Knesset, für die Aufnahme von Gesprächen. Die Botschaft: Das Volk pocht auf Veränderun­g.

Innenpolit­isch hemmen zwar Korruption, hohe Lebenshalt­ungskosten und soziale Probleme, die der rasche Anstieg der Einwohnerz­ahl mit sich brachte, das Land. Anderersei­ts boomen etwa Wirtschaft und Tourismus. Der Frieden mit Jordanien und Ägypten hat Bestand. Und mit Deutschlan­d und den USA weiß der jüdische Staat zwei mächtige Freunde an seiner Seite.

Zum 70. Geburtstag bleibt vielleicht, Israel die Daumen zu drücken. „Masel tov“zu sagen. Dass das Gemäßigte über den Nationalis­mus siegt. Das gilt auch für Palästina – schon vor dem ersten Geburtstag, der kommen muss und wird. Es passte das Credo von Ben-Gurion, der stets sagte: Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.

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FOTO:JESSICA BALLEER Die 23-Jährige Naama (2. v.l.) diskutiert beim Mittagesse­n im Jerusaleme­r Studentenv­iertel mit ihrem Freund Daniel (24) über den Nahostkonf­likt.
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FOTO: JESSICA BALLEER Rabbi Shaul David Judelman (39).

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