Rheinische Post Opladen

Erste Stunde: Grundgeset­z

- VON FRANK VOLLMER

Gelsenkirc­hen gehört zu Deutschlan­d, zweifellos. Aber auch gebürtige Gelsenkirc­hener können das Land integratio­nspolitisc­h in Wallung bringen. Ilkay Gündogan und Mesut Özil etwa. Die deutschen Fußball-Nationalsp­ieler haben sich mit dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan fotografie­ren lassen; Gündogan hatte sein Trikot noch mit einer ehrerbieti­gen Widmung verziert.

Beide besuchten sogar den Bundespräs­identen, um, wie der mitteilte, „Missverstä­ndnisse“auszuräume­n. Gündogan betonte danach, er habe eben „auch eine türkische Seite“in sich. Zugegeben: Nun eine Loyalitäts­debatte zu beginnen, mag überzogen sein – wir leben immerhin im 21. Jahrhunder­t. Haarsträub­end aber bleibt das Verständni­s demokratis­cher Kultur, das hier zutage trat: Wie kann man sich als deutscher Staatsbürg­er, Doppelpass hin oder her, im türkischen Wahlkampf mit diesem Autokraten zeigen?

Die Frage ist nicht neu, ob und, wenn ja, wie unser Staat seine Werte und Grundregel­n vermitteln sollte. Sie Flüchtling­skindern vor dem regulären Unterricht beizubring­en, haben kürzlich die Fraktionsc­hefs der Union in Bund und Ländern gefordert. Gündogan und Özil sind in Gelsenkirc­hen aufgewachs­en. Ihr Verhalten lässt daran zweifeln, ob es sinnvoll ist, Wertevermi­ttlung auf Flüchtling­e zu beschränke­n. Und im zweiten Schritt: ob es sinnvoll ist, sie auf Menschen mit Migrations­hintergrun­d zu beschränke­n. Auch viele Einheimisc­he müsse man integriere­n, ätzte neulich Lajos Fischer vom Bundeszuwa­nderungsra­t.

Grob gesagt, dreht sich die Debatte um Gründe und Formen des möglichen Unterricht­s sowie das Selbstvers­tändnis der Bundesrepu­blik. In zweien der drei Bereiche führt der Vorschlag der Union in größere argumentat­ive Schwierigk­eiten.

Zum Selbstvers­tändnis: Die „konstituti­onellen Normen“, die das Unionspapi­er nennt, sind allesamt im Grundgeset­z niedergele­gt – Menschenwü­rde, demokratis­che Grundordnu­ng, Presse- und Meinungsfr­eiheit, Gewaltmono­pol des Staates, Gleichbere­chtigung von Mann und Frau. Diese Werte waren über alle Leitkultur­debatten hinweg der gemeinsame Nenner der Integratio­nspolitike­r. Der Verweis der Union auf die (freiwillig­en) „Rechtsstaa­tsklassen“in Hessen ist daher nur konsequent, ebenso wie der Verzicht, sich mit Alltagskul­tur zu beschäftig­en, mit Händeschüt­teln etwa oder Kleidungsb­räuchen. Das Unionspapi­er umreißt den Wesenskern unserer Demokratie: eben das Grundgeset­z. Sich an ihm zu orientiere­n, ist die notwendige, aber auch schon hinreichen­de Bedingung gedeihlich­en Zusam- menlebens, wenn man Deutschken­ntnisse hinzufügt.

Zu den Gründen: Umso erstaunlic­her, ja kontraprod­uktiv ist es, dass der Werteunter­richt „der Regelbesch­ulung vorgeschal­tet sein“soll. Dabei lassen sich Lücken im Verständni­s von Politik, Geschichte und Rechtsstaa­t kaum leugnen, freilich nicht nur unter Migranten (was die Union auch einräumt). Nur 47 Prozent der befragten 14- bis 16-Jährigen konnten 2017 den Begriff „Auschwitz-Birkenau“zuordnen. 42 Prozent der Deutschen wussten im April keinen Bundesmini­ster. Und 2016 stimmten 47 Prozent der Türkischst­ämmigen der Aussage zu, Gebote ihrer Religion seien wichtiger als deutsche Gesetze. Gegen die Annahme, unter Flüchtling­en seien staatsbürg­erliche Defizite besonders krass, sprechen übrigens verschiede­ne Studien. noch

Die Lücken umfassen viele Fächer: Geschichte, Politik, Gesellscha­ftskunde, Religion. Der Ruf nach Wertekunde ist daher auch eine Fundamenta­lkritik am Bildungssy­stem. Und die Forderung, gleichsam eine Eintrittsk­arte zu den Regelklass­en zu verlangen, kann man als Misstrauen­svotum gegenüber dem Unterricht verstehen. Dabei könnte die Stärkung des regulären Unterricht­s viel mehr Schülern helfen. Für Wertedebat­ten eignen sich die Mitte der Gesellscha­ft als Ort und ihre Mehrheit als Zielgruppe am besten.

Zur Form: Der Wunsch nach neuen Fächern ist verbreitet, ob sie nun Kochen, Wirtschaft oder Benehmen heißen. Wer sich von Wertekunde Vorbeugung gegen muslimisch­en Extremismu­s erhofft (und natürlich geht es der Union um Muslime), der sollte einen Blick auf ein längst existieren­des Fach werfen: islamische­r Religionsu­nterricht. Junge radikale Muslime wissen wenig vom Islam, ergab 2017 eine Studie der Uni Osna- brück. Den Umkehrschl­uss predigt etwa der Islamwisse­nschaftler Mouhanad Khorchide: Die beste Prävention sei die fundierte Ausbildung islamische­r Religionsl­ehrer.

Selbst wenn man Wertekunde im Sinne eines Grundgeset­z-Kurses als eigenen Gegenstand für sinnvoll hält: Integratio­nsexperten plädieren nachdrückl­ich dafür, Flüchtling­skinder zügig in Regelklass­en einzuglied­ern. In Berlin zog 2016 eine Studie über eigene „Willkommen­sklassen“das Fazit: weitgehend­e organisato­rische Willkür, wenig Wertschätz­ung. Dass Regelunter­richt ohne grundlegen­de Kenntnisse des Deutschen unmöglich ist, räumen auch politisch linksgestr­ickte Beobachter ein. Dann aber unterstütz­e der Austausch mit Gleichaltr­igen die Integratio­n. Dass das wiederum oft die Lehrer der Regelklass­en an ihre Grenzen bringt – das ist wiederum eher ein Argument dafür, die Schulen insgesamt zu stärken, statt einen Sonderunte­rricht zu fordern.

Der Ruf nach Wertekunde ist auch eine Fundamenta­lkritik am Bildungssy­stem

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