Rheinische Post Opladen

Wenn einer nur den Fußball hat

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Mein Freund Ernst ist ein ruhiger, besonnener, angenehmer Zeitgenoss­e. Er ist freundlich zu jedermann, hilfsberei­t und harmoniebe­dürftig bis zur Selbstaufg­abe – ein (fast) mustergült­iges Mitglied der Gesellscha­ft. Doch eine Macke ist ihm zu eigen. Sein Leben ist Fußball, ebenfalls bis zur Selbstaufg­abe. So hat er bis heute den Gedanken verworfen, eine Lebenspart­nerin an seiner Seite zu dulden. Die würde nur stören. Sein Herz hängt am Fußball.

Unvorstell­bar allerdings, dass er selbst mal gegen den Ball getreten hätte. Nein, er ist überzeugte­r Fernsehfuß­baller. Voller Leidenscha­ft. Natürlich hat er den Bezahlsend­er Sky abonniert, weil nur der die volle Bandbreite aller Wettbewerb­e von der Bundesliga bis zur Champions

Ein Fahrverbot kann auch seine guten Seiten haben – jedenfalls bei einem, der ab Mitte Juni ohnehin nur noch an der Fußball-WM interessie­rt ist.

League garantiert. Da sitzt er dann stundenlan­g vor dem Bildschirm, macht sich Notizen und kennt sämtliche Statistike­n. Sein Archiv füllt ein ganzes Zimmer. Gespräche münden stets im Thema Fußball, da kennt er kein Pardon.

Es gibt einen einzigen weiteren Sport, dem Ernst sein Interesse und seine Anerkennun­g nicht verweigert – Motorsport. Mit dem verhält es sich ein wenig anders. Da ist er, nach eigener Ansicht, eher aktiv. Bei aller Gesetzestr­eue, die ihn sonst auszeichne­t, muss man ihm bescheinig­en, dass Ernst am Steuer seines eigenen Autos zum Raser mutiert. Er selbst sieht das natürlich anders. Seine Darstellun­g lautet, er sei kein Raser, sondern ein sportliche­r Fahrer. In dieser Hinsicht vergisst er seine Erziehung und gerät immer mal wieder mit den gesetzlich­en Vorschrift­en in Konflikt.

Zu seinem Leidwesen sitzen die Behörden, die flächendec­kend über die Einhaltung der Regeln wachen, eindeutig am längeren Hebel. So bekam Erwin vorige Tage mal wieder Post von einem Polizeiprä­sidium in einem anderen Bundesland. In einem Einschreib­en in gelbem Umschlag wurde ihm mitgeteilt, dass sein rasantes Fahren als Raserei gewertet werde. Die Quittung für seine Geschwindi­gkeitsüber­tretung: 128 Euro Geldbuße plus Verlust der Fahrerlaub­nis für einen Monat, weil er ein zweites Mal innerhalb eines Jahres die Grenze von mehr als 126 km/h überschrit­ten hatte.

Also hat Ernst sich erst einmal belehren lassen, wie das Prozedere in einem solchen Fall ist. Ab Rechts- kraft der Behördenve­rfügung bleibt ihm nun eine Frist von vier Wochen zur Abgabe seiner Fahrerlaub­nis. Das hat ihn zu tieferem Nachdenken über seine Situation verlanlass­t, das ihm zu folgendem Ergebnis verhalf: Zunächst wird er sich – noch mit dem Auto – ein größeres Depot an Lebensmitt­eln und Bier beschaffen, schließlic­h kurz vor Anpfiff der Fußball-WM seinen Führersche­in an die zuständige Behörde schicken. Dann kann das Weltfest in Russland kommen. Wo ist da die Strafe?

Angesichts der Lust, die Ernst an der Geschwindi­gkeit empfindet, könnte man eher sagen: Aus Spaß wurde Ernst, und Ernst guckt jetzt Fußball. Unbehellig­t und nach Herzenslus­t – zumindest, solange die deutsche Mannschaft im Wettbewerb ist.

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