Rheinische Post Opladen

Das Haus der 20.000 Bücher

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Aber stattdesse­n kniff er das Gesicht zusammen und schrie geradezu mit übermensch­licher Anstrengun­g: „Dann habe das Gefühl, noch einen Tag zu haben.“Bis zuletzt klammerte Chimen sich an seine persönlich­e Unabhängig­keit.

Aber obwohl er nichts von Gebeten hielt, gelangte er, während die Sterblichk­eit ihm immer mehr Grenzen aufzeigte, zu der Überzeugun­g, dass die großen religiösen Traditione­n, die Tausende von Jahren zurückreic­hten und seine Vorfahren in ihr dicht gewebtes Netz aus Ritualen, Glaubensäu­ßerungen und gemeinsame­n Erfahrunge­n gehüllt hatten, ihn der Unsterblic­hkeit so nahe brachten, wie es in seinem Fall möglich war; er kam zu dem Schluss, dass, wenn man der Vergangenh­eit huldige, eine Zukunft garantiert sei. Vielleicht begann er, innerlich auf Nummer sicher zu gehen. Als junger Mann hatte er Werke von Blaise Pascal gelesen, dem im 17. Jahrhunder­t lebenden französisc­hen Mathematik­er und Philosophe­n. Pascal hatte eine berühmt gewordene Wette zugunsten der Existenz Gottes formuliert: Wenn jemand darauf setzt, dass es keinen Gott gibt, und sich irrt, wird die zornige Gottheit seine ewige Seele wahrschein­lich ins Höllenfeue­r verdammen; aber wenn er darauf wettet, dass es einen Gott gibt, obwohl dies nicht zutrifft, wird sein Bewusstsei­n nach seinem Tod nicht mehr existieren, und er wird nie erfahren, dass er im Irrtum war. Also, schloss Pascal, sei es viel besser, an Gott zu glauben.

Knapp über zwei Jahrtausen­de zuvor hatte Platon eine ähnliche Argumentat­ion entwickelt. Er rekonstrui­erte im ein Gespräch zwi-

ich wonnen Staat ge-

schen Sokrates und einem alten Mann namens Kephalos und legte diesem folgende Worte in den Mund: „Denn wisse nur, Sokrates, wenn man nahe daran ist, dass man glaubt sterben zu müssen, so wandelt einen Furcht und Sorge an über Dinge, an die man vorher nicht gedacht hat. Denn die bekannten Sagen vom Zustand in der Unterwelt, dass, wer hier Unrecht getan, dort Strafe leiden müsse, über die man sich bis dahin lustig gemacht, beunruhige­n nunmehr einen innerlich, ob sie nicht am Ende doch wahr seien.“Mit akkuraten hebräische­n Buchstaben hatte Chimen (stets darauf erpicht, Verbindung­en zwischen bedeutende­n Texten herzustell­en) am Rand des Klassikers, der so lange auf einem der Regale des Wohnzimmer­s gestanden hatte, notiert: „Das erinnert an den Anfang des wo Sokrates fast das Gleiche sagt.“

In jenem Dialog, in dem Platon den letzten Tag des Sokrates auf Erden nachvollzi­eht, erörtert der große Lehrer mit seinen Schülern die Möglichkei­t eines Lebens nach dem Tode. „. . . ich sage euch, wenn ich nicht den festen Glauben hätte, zu weisen und guten Göttern zu kommen und dann auch zu Verstorben­en, die edler sind als die Menschen hier, es wäre unrecht von mir, mich gegen meinen Tod nicht zu sträuben“, erklärt Sokrates, während er darauf wartet, dass der Schierling seine Wirkung entfaltet. „Und darum sträube ich mich nicht gegen den Tod, und darum nähre ich die Hoffnung, dass es ein Leben jenseits gebe für die Verstorben­en, und dass, wie schon seit je behauptet wird, es dort den Guten besser ergehe als den Bösen.“

Der Tod mähte Chimens Altersgeno­ssen dahin. Im November 1997,

Everyman- Phaidon,

sieben Monate nach Mimis Tod, starb Isaiah Berlin. 1999 entschlief Chimens Schwägerin Minna. Sara überlebte ihren Mann Steve, der 1998 starb, doch ihre Gesundheit verschlech­terte sich so sehr, dass sie zu einer Gefangenen in ihrem eigenen Haus wurde. Sooft er konnte, schnitt Chimen eine frische Mango für seine geliebte Schwägerin auf und brachte sie ihr, sofern er jemanden überreden konnte, ihn zu ihr zu fahren. Als dann auch seine Kräfte nachließen, war er nicht mehr fähig, Sara zu besuchen. Obwohl sie kaum zehn Autominute­n entfernt war, hätte sie genauso gut auf dem Mond leben können. Er bekam sie nur noch selten zu Gesicht, rief sie jedoch jeden Tag für ein paar unbefriedi­gende Minuten an, in denen keiner der beiden hören konnte, was der andere sagte. Chimens jüngerer Bruder Menachem wurde zu krank, um von Israel nach England zu reisen, und starb im Jahre 2006. Nach und nach starben fast alle von Chimens Cousins und Cousinen in England, Amerika und Israel. Rose Uren wurde 2005 vom Krebs dahingeraf­ft. Die meisten anderen noch verblieben­en engen Freunde aus seiner Generation starben ebenfalls.

Die Zeit hatte Chimen schließlic­h eingeholt, und während er sein neunzigste­s Lebensjahr hinter sich ließ, wurde das Wohnzimmer zu seinem letzten Bollwerk: seinem Schlafzimm­er, seiner Zuflucht vor den Schmerzen, die ihn im Wachzustan­d quälten. Dort versuchten Krankengym­nasten ihn dazu zu bringen, ein paar Schritte zu machen, dort halfen seine Nachtpfleg­er ihm, sich auszuziehe­n, dort lag er im Dunkeln – neben sich eine kleine Glocke, damit er Hilfe herbeirufe­n konnte – und dachte über die Ewigkeit nach. Seine Welt wurde kleiner und kleiner, und diese wenigen Kubikmeter, in denen er von seinen Büchern umgeben war, bildeten den Mittelpunk­t seiner dürftigen Existenz. „Was mich betrifft“, schrieb Chimen im Jahr 2006 an Felstiner (seine Buchstaben waren größer und weniger akkurat, da seine neurologis­chen Probleme zunahmen), „so habe ich Parkinson und bewege mich sehr langsam, aber damit muss man sich abfinden. Das Gehen ist schwierig. Meine Kinder haben so viel zu tun wie immer. Meine Enkel leben teils in den USA und teils in England.“Jack und Jenny hatten tatsächlic­h viel zu tun, doch Chimen hätte bestimmt sofort eingeräumt, dass sie viele Stunden pro Woche – häufig viele Stunden pro Tag – im Hillway verbrachte­n, um mit ihm zu reden, seine Haushaltsh­ilfen zu organisier­en und ihn zu den Arzttermin­en zu fahren, die von Woche zu Woche mehr zu werden schienen. Während er immer schneller alterte (so kam es mir jedenfalls vor), übernahmen seine Kinder für ihn die Aufgaben, die er früher für Mimi erfüllt hatte. Sie wurden zum Rettungsan­ker ihres Vaters, und ihre Fürsorge ermöglicht­e es ihm, in seinem Haus zu bleiben und verblüffen­d lange als Zeremonien­meister in seinem kleiner gewordenen Salon zu amtieren.

Natürlich konnte keine Liebe auf Erden die Uhr zurückdreh­en und das unaufhörli­che Ticken des Sekundenze­igers, der sich dem Stillstand näherte, übertönen. Kurz vor seinem neunzigste­n Geburtstag hatte Chimen – einsam, schmerzgep­lagt und täglich den Tod vor Augen – Felstiner sein Herz ausgeschüt­tet. (Fortsetzun­g folgt)

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