Eine neue Deutung des „Schwanensees“
Lange hat er gezögert, jetzt zeigt der Chef-Choreograf des Ballett am Rhein erstmals ein Handlungsballett.
DÜSSELDORF Er hat eine neue Welt betreten. Eine Welt „der Personen und Figuren“, sagt Martin Schläpfer, „nicht cool und zeitgenössisch, sondern unschuldig – wenn auch nicht naiv“. Der künstlerische Direktor des Balletts am Rhein hat sein erstes Handlungsballett geschaffen, eine Choreografie also, die eine durchgehende Geschichte erzählt. Und er hat sich dazu für das „Ballett aller Ballette“entschieden, für Tschaikowskys „Schwanensee“.
Das Märchen vom Prinzen, der sich in ein unschuldiges Schwanenmädchen verliebt, später aber der Faszination für den leidenschaftlichen schwarzen Schwan erliegt, gehört seit seiner Premiere 1877 am Moskauer Bolschoi-Theater zu den beliebtesten Balletten der Welt. Die Idee, einen solchen klassischen Stoff neu zu deuten, ihm etwas „Schläpferhaftes“einzuschreiben und sich damit zugleich einzureihen in die lange Interpretationsgeschichte, die von Großmeistern wie Marius Petipa oder George Balanchine bis zu Erneuerern wie John Neumeier reicht, hatte Schläpfer lange von sich gewiesen. Auf entsprechende Nachfragen hatte er stets erwidert, Oper und Schauspiel könnten besser erzählen, weil sie das Wort hätten, und auch purer Tanz sei schließlich nicht handlungslos. Wie erzählerisch man auch mit abstrakten Choreografien werden kann, hat Schläpfer in seinen vielen Arbeiten für das Ballett am Rhein dann auch bewiesen. Doch in seiner neunten Spielzeit in Duisburg/Düsseldorf hält der Chefchoreograf die Zeit nun doch für reif, in seiner Sprache ein romantisches Märchen zu erzählen. Am 8. Juni hat „Schwanensee“an der Düsseldorfer Rheinoper Premiere. Die meisten Aufführungen bis zum Spielzeitende sind schon ausverkauft, die Erwartungen hoch. Doch obwohl Schläpfer diese Last spürt, spricht er gelassen über seine neue Arbeit. Er wolle mit der Tradition nicht brechen, sagt er etwa, doch er wolle „mit größtem Respekt“eine „neue Deutung“des Stoffes zeigen. Tutus und die vier kleinen Schwäne in einer Reihe wird es bei ihm nicht geben. Dafür Tschaikowsky im Original: Anders als viele Choreografen in der Aufführungsgeschichte des Werks hält sich Schläpfer an die Abfolge der Musiken, wie sie der Komponist erdacht hat. So wird der Zuschauer zu den bekannten Melodien teils andere Passagen der Handlung erleben als in traditionellen Choreografien. Bühnen- und Kostümbildner Florian Etti hat in seiner siebten Zusammenarbeit mit Schläpfer erneut abstrakte Räume erfunden, die doch sehr genau die geforderten Szenen ins Bild setzen, das Schloss, den See, eine starre Welt, die sich für die Poesie der Lie- be öffnet, am Ende aber von der Vernunft in eisernen Griff genommen wird.
Das Publikum darf sich außerdem auf ein Wiedersehen mit zwei großen Tänzerinnen freuen, die unter Schläpfers Vorgängern an der Rheinoper getanzt haben und nun nach Jahren für dessen „Schwanensee“auf die Bühne zurückkehren: Monique Janotta und Young Soon Hue. Beide berichten, dass es für sie eigentlich undenkbar war, nochmals selbst zu tanzen. „Doch nun fühlt es sich an wie ein Nachhausekommen“, sagt Young Soon Hue.
Auch Schläpfer verwendet dieses Bild, wenn er über seine Arbeit an der neuen Choreografie spricht. Die Handlung, vor der er so lange zurückschreckte, weil er in seiner eigenen Sprache verstanden werden wollte, hat ihm ungeahnte Freiheit geschenkt: „Ich habe mich nicht mehr bei jeder Bewegung selbstkritisch fragen müssen, ob sie auch originell und visuell reizvoll ist, jetzt war die Frage, ob sie die Handlung transportiert“, so Schläpfer.
Gerungen hat er natürlich trotzdem. Mit dem Schönklang der Musik etwa. Oder damit, nicht in die Bilder und Bewegungen zurückzufallen, die in andere Zeiten der Interpretationsgeschichte gehören. „Jeder kennt Schwanensee und glaubt zu wissen, wie die Choreografie auszusehen hat“, sagt Schläpfer. Diese Zuschauer will er verführen, das alte Märchen neu zu sehen. www.operamrhein.de