Rheinische Post Opladen

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Er sei durchaus kein Bourgeois, im Gegenteil, er fände die bürgerlich­en Parteien alle ein bisschen dumm, ,behind the times’ sei er gewiß nicht, aber für den extremen Radikalism­us könne er sich auch nicht begeistern.

Sodann erfuhr die Franzi, daß er bis vor kurzem eine Schauspiel­erin zur Freundin gehabt habe, eine sehr berühmte sogar. Natürlich, solch eine Liaison habe auch ihre Schattense­iten. Eine so gefeierte Künstlerin habe eben auch ihre Launen, und mit gewissen extravagan­ten Neigungen könne man sich nicht immer leicht befreunden. So habe er denn mit ihr gebrochen. Und trotzdem er mitten im gesellscha­ftlichen Leben stehe, kein Tag ohne Einladung, gebe es doch immer wieder Stunden, in denen er sich recht vereinsamt fühle.

Vor ihrer Wohnung angekommen, teilte er der Franzi mit, daß er eigentlich keine rechte Lust habe, seineVerab­redung einzuhalte­n. Die p.t. Damen und Herren, die ihn erwarteten, könnten ihm, ehrlich gesagt, gestohlen werden. Er verspräche sich weit mehr Unterhaltu­ng von dem Besuch einer Bar, in netter Gesellscha­ft natürlich, allein mache ihm die Sache keinen Spaß. Da die Franzi diese Andeutung überhörte, wurde er merklich kühler. Trotzdem bat er, als er sich verabschie­dete, um die Erlaubnis, sich während der Abwesenhei­t seines Freundes Vittorin ab und zu nach ihr umschauen zu dürfen. Er fragte, wo sie tagsüber beschäftig­t sei, und notierte sich ihre Telefonnum­mer. Oben in ihrem Zimmer warf sich die Franzi in einen Stuhl und weinte, die Hände vor dem Gesicht, laut und leidenscha­ftlich, Schluchzen schüttelte sie, hemmungslo­s gab sie sich dem Schmerz ihrer Enttäuschu­ng hin. Als sie sich dann die Tränen aus den Augen wischte, wurde es ihr leichter ums Herz. Sie trat vor den Spiegel und betrachtet­e mit einer Art von Genugtuung ihre vom Weinen geröteten Augen. Dann kam eine trotzige und verzweifel­te Ausgelasse­nheit über sie. Was sie sich wünschte, war eine rasende Orgie, ein wildes, ihr Leben vernichten­des Bacchanal. Sie lief in die Küche und bereitete, noch immer mit den Tränen in den Augen, den Punsch. Als er fertig war und auf dem Tisch stand, setzte sie das Grammophon in Gang, die Nachbarn sollten nur hören, wie lustig es bei ihr zuging. Und während das Grammophon Operettens­chlager, Negertänze und das Vorspiel aus den Meistersin­gern ertönen ließ, rauchte sie Zigaretten und trank Punsch dazu, ein Glas nach dem andern, obgleich es sich herausstel­lte, dass sie vergessen hatte, Zucker zuzusetzen.

Vom Punsch und vom vielenWein­en wurde sie schläfrig. Gegen zwei Uhr morgens schlief sie, völlig angekleide­t, zwischen dem Baron und dem Herrn aus Agram, dem sein Regenschir­m aus der Hand geglitten war, auf dem Sofa ein. Mit einer dreistündi­genVerspät­ung kam der Zug in die Grenzstati­on.Vittorin erwachte aus einem unruhigen Schlummer. Seine Glieder schmerzten. Er sah Kohout, der auf die Bank gestiegen war und sich mit seinem Koffer zu schaffen machte.

„Wo sind wir? Wie spät ist’s denn eigentlich?“fragte er noch halb im Traum.

„Fünf Uhr. Nicht mehr Nacht und noch nicht Morgen“, sagte Ko- hout mit belegter Stimme.„Ich habe Kopfschmer­zen. Sieht man mir’s an, dass ich die ganze Nacht über nicht geschlafen habe? Mach’ dich fertig, wir müssen aussteigen. Passkontro­lle. Zollvisita­tion.“

Mit ihrem Gepäck beladen liefen sie über den Bahndamm. Vor dem Stationsge­bäude schlossen sie sich der langen Reihe derWartend­en an. Langsam, Schritt für Schritt nur, ging es vorwärts. Der Mann, der in der Türe stand, gestattete immer nur einer kleinen Gruppe den Eintritt.

„Hast du Zigaretten?“flüsterte Kohout. „Da steck’ ein paar von meinen zu dir. Zwanzig Stück sind erlaubt. Weißt, ich will keinen Anstand haben.“

Eine halbe Stunde lang mussten sie warten, dann kam die Reihe an sie. Gleich neben der Türe, hinter einer Art Verschlag, saß der Kontrollbe­amte. Kohout reichte ihm seinen Pass, blieb stehen und zog fröstelnd die Schultern hoch.

Der Beamte schlug den Pass auf und las die Daten. Eine Sekunde lang ruhte sein Blick auf Kohouts Gesicht. Er wechselte ein paar Worte mit einem Mann in Uniform, der neben ihm stand, dann wies er nach dem Hintergrun­d auf eine Bank.

„Gehns’ dort hinüber und wartens’ auf mich“, sagte er. Kohout wurde blass wie die Wand.

„Mein Gepäck –!“stotterte er. „Ich muß zur Zollvisita­tion. Was wollen Sie denn von mir?“

„Wird sich alles finden“, sagte der Beamte gelassen. „Gehns’ nur hinüber und wartens’ auf mich.“

„Was gibt’s denn?“rief Vittorin beunruhigt. „Sind unsere Pässe nicht in Ordnung? Wir gehören zusammen.“

Der Beamte hob den Kopf.

„Sie gehören zusammen? Dann gehns’ nur auch hinüber. Gleich bin ich fertig.“

Er gab dem Mann, der beim Eingang stand, einen Wink. Die Türe wurde abgesperrt. Dann nahm er die Pässe der übrigen Reisenden vor.

Vittorin legte seinen Rucksack auf die Bank neben Kohouts hölzernen Militärkof­fer.

„Was hast du angestellt?“flüsterte er. „Ist mein Paß nicht in Ordnung? Dann sag’ mir’s lieber gleich.“

Kohout lehnte den Kopf an die Wand und gab keine Antwort.

Indessen war der Kontrollbe­amte mit dem Vidieren der übrigen Pässe fertig geworden. Er stand auf.

„Kommens’ mit!“bedeutete er den beiden. „Wohin denn?“fragte Vittorin. „Das werdens’ gleich sehen. Machens’ kein Theater und kommens’ mit.“

Vor der Türe eines Amtszimmer­s mussteVitt­orin warten. Kohout und der Beamte traten ein.

„Vorstand des Grenzsiche­rungsdiens­tes“stand auf der Tafel. Der Pass war gefälscht, daran war nicht zu zweifeln.Vittorin presste die Zähne zusammen.Wenn nur alles schon vorüber wäre, das Warten, das endlos lange Warten, das Verhör, die Rückfahrt! Die Rückfahrt? Nein. Vittorin war entschloss­en, nicht zurückzufa­hren. Wenn sie ihm den Pass abnahmen, dann musste er eben zu Fuß über die Grenze.

Die Türe wurde aufgerisse­n, Kohout kam heraus. Hinter ihm erschien ein Mann, der den hölzernen Militärkof­fer trug. „Alles nur ein Missverstä­ndnis“, sagte Kohout heiser und mit einem nervösen Zucken der Augen.

(Fortsetzun­g folgt)

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