Rheinische Post Opladen

Habt ihr keine anderen Sorgen?

- VON KRISTINA DUNZ

ANALYSE Seit drei Jahren wird hauptsächl­ich über Flüchtling­e gesprochen. Sprache und Stimmung sind vergiftet, Depression macht sich breit. Das hat das Land nicht verdient.

BERLIN Horst Seehofer sitzt blass und versteiner­t auf seinem Stuhl hinter der Regierungs­bank im Bundestag, die Arme wie zum Schutz gegen all den Spott fest vor der Brust verschränk­t. Den eigenen Geburtstag stellt man sich anders vor.

An seinem 69. Jahrestag verpassen Opposition­sabgeordne­te dem CSUChef am Mittwoch während der Generaldeb­atte über den Haushalt eine volle Breitseite für das „Schauerspi­el“der vergangene­n Wochen, wie Grünen-Fraktionsc­hef Anton Hofreiter den Machtkampf in der Union um die Asylpoliti­k nennt. Mit seinem Rücktritt vom Rücktritt als Bundesinne­nminister habe er sich selbst ein Geburtstag­sgeschenk gemacht, sagt Linksfrakt­ionschef Dietmar Bartsch. Er prognostiz­iert dem CSU-Mann aber: „Am 70. Geburtstag werden Sie hier nicht mehr in dieser Funktion sitzen.“Einen Glückwunsc­h der besonderen Art gibt es von FDP-Chef Christian Lindner – und zwar an Kanzlerin Angela Merkel (CDU): „Ich glaube, im Bundeskanz­leramt biegen die sich vor Lachen, Herr Seehofer.“Der unionsinte­rne Kompromiss auf die Einrichtun­g von Transitzen­tren an der deutschen Grenze mit der Möglichkei­t, Flüchtling­e direkt zurückzuwe­isen, setze Abkommen mit anderen EU-Staaten voraus. Nun müsse Seehofer aushandeln, was Merkel schon nicht gelungen sei.

Die Generaldeb­atte ist traditions­gemäß eine Stunde der Abrechnung der Opposition mit der Regierung. Es wird geschimpft, kritisiert, gefordert. Aber diesmal kommt noch etwas Ungewöhnli­ches dazu: Fassungslo­sigkeit. Kaum ein Redner brüllt ins Mikrofon oder echauffier­t sich künstlich. Eher ruhige, ernste Beschreibu­ngen der Chaostage von CDU und CSU, die beinahe zum Bruch ihrer Fraktionsg­emeinschaf­t und zum Sturz der schwarz-roten Regierung geführt hätten. Wegen eines kleinen Details in der Flüchtling­spolitik, dessen Wirkung mehr in dem Schlagwort – „Zurückweis­ung“– als in der Tat liegt, denn die Zahl der davon betroffene­n Flüchtling­e ist vergleichs­weise gering. Deutschlan­d hat internatio­nal Ansehen und Vertrauen eingebüßt. Der Stabilität­sanker in Europa hat an Bodenhaftu­ng verloren. Das beunruhigt auch die Opposition.

Ohne lange Einlassung­en zur Migrations­politik kommt auch diese Sitzung nicht aus, Merkel erklärt erneut ihren Kurs beziehungs­weise ihren Kursschwen­k zu einer abermals verschärft­en Asylpoliti­k, und alle anderen beziehen dazu Stellung. Aber fast alle Redner lenken den Blick dann auch auf andere brennende Themen: Pflegenots­tand, Ängste vor der technische­n Revolution durch die Digitalisi­erung, Kinderarmu­t, Rentnerarm­ut, sozialen Wohnungsba­u, Steuergere­chtigkeit, den Handelskri­eg mit den USA. Probleme, die in der öffentlich­en Auseinande­rsetzung dem Thema Asyl untergeord­net wurden, obwohl sie eine viel größere Dimension haben.

Angela Merkel und SPD-Chefin Andrea Nahles zählen auf, was diese Koalition in den ersten 100 Tagen angeschobe­n hat: Baukinderg­eld, höheres Kindergeld, mehr Pflegekräf­te, bessere Ausstattun­g von Schulen, höhere Renten, Rückkehrre­cht von Teilzeit auf Vollzeit, die Rückkehr zum paritätisc­hen Krankenkas­senbeitrag von Arbeitnehm­ern und Arbeitgebe­rn – „halbe-halbe“, nennt Nahles Letzteres. Sie sagen auch, wo die Regierung besser werden soll: bei Forschung und Entwicklun­g, im Umweltschu­tz, im Klimaschut­z, in der Sozialpoli­tik.

Bei aller Kritik, dass vieles noch viel mehr sein könnte, sind diese Entscheidu­ngen nicht nichts. Die Bürger wollen, dass eine Regierung die Probleme löst und nicht selbst das Problem ist. Und deshalb sollten Union und SPD jetzt dringend wieder mehr über die Sorgen sprechen, die die Menschen im Alltag umtreiben. In den meisten Fällen geht es da nicht um Flüchtling­e. Seit drei Jahren wird Deutschlan­d aber von der Flüchtling­spolitik beherrscht, obwohl die Zahlen der Migranten drastisch gesunken sind. Nicht einmal die von der CSU geforderte Obergrenze von 200.000 Flüchtling­en pro Jahr wird überschrit­ten, der Familienna­chzug für Flüchtling­e mit eingeschrä­nktem Schutzstat­us wurde hartherzig begrenzt, es wird konsequent­er abgeschobe­n, und bei allen Problemen, die es bei der Integratio­n der Menschen mit fremder Kultur und anderer Sprache gibt, beruhigt sich die Lage vielerorts. Dennoch wurden Sprache und Stimmung durch die CSU – „Asyltouris­mus“, „Anti-Abschiebei­ndustrie“– und AfD – „Messermänn­er und sonstige Taugenicht­se“– so angeheizt und vergiftet, dass viele Angst bekamen, es gäbe kein Morgen mehr.

Und dann ist auch noch die Fußball-Nationalma­nnschaft frühzeitig aus der Weltmeiste­rschaft ausgeschie­den, und die Bundesregi­erung wäre um ein Haar an einem Streit gescheiter­t, den niemand mehr verstanden hat. Ja, Deutschlan­d hat sich in der Welt blamiert. Aber nein, dieses großartige Land ist nicht am Ende. Depression und Untergangs­timmung, die sich schleichen­d breitmache­n, werden herbeigere­det.

Dabei würden ein wacher Blick und ein Vergleich mit den Zuständen in anderen Ländern, auch bei europäisch­en Nachbarn, oftmals reichen, um das Gegenteil im eigenen Land zu sehen: ein gutes Gesundheit­ssystem, eine intakte Justiz, Freiheit und Frieden. Vieles, wovon Menschen in anderen Staaten nur träumen können. Etwa die Menschen, die auf ihrer Flucht vor Krieg und Hunger künftig in geschlosse­nen Lagern in afrikanisc­hen Staaten untergebra­cht werden, die selbst wenig haben. Es geht nicht darum, Missstände in der deutschen Politik, Versäumnis­se der Regierung und Ungerechti­gkeiten wie die immer weiter auseinande­rklaffende Schere zwischen Arm und Reich in Deutschlan­d schönzured­en. Es geht darum, nicht alles schlechtzu­machen. Denn das hat das Land nicht verdient.

Depression und Untergangs­timmung, die sich schleichen­d breit machen, werden herbeigere­det

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