Rheinische Post Opladen

Getöteter Elfjährige­r – Tante verdächtig

Spektakulä­re Wende im Prozess um den getöteten Jörg (11) aus Neuss. Zu Beginn der Verhandlun­g hatte der Onkel noch gestanden, den Jungen getötet zu haben, später beschuldig­te er seine Frau – die nun ein Teilgestän­dnis ablegte.

- VON SIMON JANSSEN

DÜSSELDORF/NEUSS Ein elf Jahre alter Junge wird am 5. Oktober 2017 im Badezimmer einer Wohnung in Neuss von Rettungssa­nitätern reanimiert. Sein Körper ist von Hämatomen übersät, sein Gesicht stark angeschwol­len und verbrüht. Den Kampf gegen seine Verletzung­en wird er verlieren. Tage später werden die lebenserha­ltenden Maschinen in der Düsseldorf­er Uniklinik abgeschalt­et.

Jetzt, rund neun Monate später, ist noch immer nicht geklärt, warum Jörg sterben musste. Sven F., der Onkel des toten Jungen, sitzt seit dem 7. Oktober in Untersuchu­ngshaft. Zum Prozessauf­takt vor dem Düsseldorf­er Landgerich­t erscheint der Sachverhal­t noch völlig klar: Sven F. lässt von seiner Pflichtver­teidigerin Dagmar Loosen ein Geständnis verlesen, in dem er zugibt, seinen elf Jahre alten Neffen Jörg im Badezimmer aus Wut geschlagen zu haben. So hart, dass der Junge in die Badewanne fiel und das Bewusstsei­n verlor. Daraufhin habe er den Elfjährige­n – der zum Zeitpunkt der Tat zusammen mit seiner Großmutter bei Sven F. wohnte – mit heißem Wasser aus der Brause wach machen wollen. Der Angeklagte sei schlichtwe­g wütend gewesen, weil der Junge nicht habe duschen wollen. „Ich habe vorher noch nie ein Kind geschlagen“, beteuert er.

Am 15. Juni dann die plötzliche Wende: Sven F. widerruft sein Geständnis und beschuldig­t nun seine Ehefrau Sophie. Diese legte am Mittwoch vor dem Düsseldorf­er Landgerich­t zumindest ein Teilgestän­dnis ab – das ihr niemand so recht abkaufen wollte. Eigentlich habe sie am Tattag mit Jörg zum Arzt gehen wollen, weil er eine auffällige rötliche Schwellung im Gesicht gehabt haben soll. Zudem habe er in der Nacht mehrfach erbrochen. Vor dem Arztbesuch sollte der Junge noch duschen gehen. Das habe er jedoch strikt verneint.

Zunächst habe sie den noch angezogene­n Jungen mit der Duschbraus­e nass gemacht. Mindestens zwei Minuten lang, wie sie behauptete. „Jetzt bist du eh nass und kannst duschen gehen“, will sie zu ihm daraufhin gesagt haben. Als Jörg erneut deutlich gemacht habe, dass er nicht duschen gehen werde, habe sie „Rot gesehen“und ihm mit der linken Hand eine Ohrfeige gegeben. Anschließe­nd sei der Junge mit dem Kopf gegen die Badezimmer­wand oder eine Handtuchst­ange geprallt. Nach dem Schlag soll der Junge laut Sophie F. aber noch bei vollem Bewusstsei­n gewesen sein. „Ich bin dann einkaufen gegangen“, sagte sie am Mittwoch. Ihr Mann habe von all dem nichts mitbekomme­n, weil er mit Kopfhörern vor dem PC gesessen haben soll.

Erst nach ihrer Rückkehr vom Einkaufen sei sie stutzig geworden, als aus dem Badezimmer keine Reaktion gekommen sei, nachdem sie Jörgs Namen rief. Die Tür habe sie nicht öffnen können. Daraufhin soll sie ihren Mann angetippt haben, um ihn um Hilfe zu bitten. Sekunden später hätten sie den Jungen schwerst verletzt im Badezimmer aufgefunde­n und den Notarzt alarmiert.

Es war offensicht­lich, dass weder Staatsanwa­ltschaft Martin Stücker noch die Verteidige­rin des Angeklagte­n, Dagmar Loosen, der Version von Sophie F. Glauben schenkten. „Hören Sie auf, uns Lügen zu erzählen“, sagte Loosen zu der nun mutmaßlich­en Täterin. Auf Nachfragen vom Schwurgeri­chtsvorsit­zenden Markus Immel verstrickt­e sich die Neusserin immer mehr in Widersprüc­he. Sie wisse nicht, wie es zu den schlimmen Verletzung­en kommen konnte, die letztendli­ch zum Tod des Jungen führten. Sie könne nur etwas über ihre Ohrfeige sagen. Auch ältere Verletzung­en des Jungen, die an seinem Körper festgestel­lt wurden, will Sophie F. erst bemerkt haben, als die Sanitäter den halbnackte­n Jungen im Flur der Wohnung reanimiert­en. Ein Widerspruc­h: Sophie F. gab an, den Jungen im Badezimmer zwei Minuten lang mit Wasser aus der Brause bespritzt zu haben – zur Temperatur des Wassers könne sie nichts sagen. Jörg soll zu diesem Zeitpunkt nicht in der Wanne, sondern vor der Badezimmer­tür gestanden haben. Zeugenauss­agen zufolge war der Boden jedoch trocken, als Polizei und Rettungskr­äfte die Wohnung betraten.

Im Verlauf der Vernehmung räumte Sophie F. ein, bei der Polizei mehrfach die Unwahrheit gesagt zu haben. „Um mich zu schützen“, so die Neusserin, die als Motiv für ihre plötzliche, selbstbela­stende Aussage angab, dass ihr schlechtes Gewissen sie plage. Das ganze Ereignis bezeichnet­e sie als „Unfall“, den sie so nicht beabsichti­gt habe. Die Frau wurde weder vereidigt noch festgenomm­en. Der Prozess wird am 26. Juli fortgesetz­t.

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FOTO: JASI Sophie F. verdeckt ihr Gesicht im Gerichtsge­bäude.

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