Rheinische Post Opladen

Einen neuen Spielstil braucht das Land

Schluss mit dem Kringeldre­hen im Mittelfeld: Das Spiel der Nationalma­nnschaft muss mehr Tiefe bekommen, der Steilpass und die Einzelakti­on gehören dringend auf den Lehrplan von Joachim Löw.

- VON ROBERT PETERS

DÜSSELDORF Das Flehen klang weit über die WM-Vorrunde hinaus. „Wir können doch nicht nach einem Spiel alles umwerfen“, sagte Bundestrai­ner Joachim Löw, „alles, was uns stark gemacht hat.“Er sagte das nach dem 0:1 gegen Mexiko, als die Fußball-Menschheit noch bereit war, die lahme Vorstellun­g als einen der seltenen Ausreißer nach unten zu begreifen. Zwei Spiele darauf war Löws Team gescheiter­t und mit ihm der Versuch, sich auf dem Platz daran zu erinnern, was es stark gemacht hat. 597 Pässe spielte die DFB-Auswahl gegen Mexiko, gar 697 gegen Südkorea. Raumgewinn verbuchte sie damit kaum, ins Tempo fand sie nicht. Es waren seelenlose Auftritte ohne Leidenscha­ft.

Löw wird, weil er weitermach­en will als führender Übungsleit­er im Land, nicht daran vorbeikomm­en, den Stil der Nationalel­f gründlich zu überarbeit­en – wie viele andere in diesem Zirkus würde er diesen Stil eine Philosophi­e nennen. Auf dem Weg zu einer neuen fußballeri­schen Identität lohnt sich der Blick in die Vergangenh­eit. Als Jürgen Klinsmann als eine Art berufsjuge­ndlicher Revolution­är gemeinsam mit seinem Taktikflüs­terer Löw ab 2004 die Strukturen auf und neben dem Feld zu ändern begann, da hatte er nicht die reiche Auswahl aus den Talentschu­len der Bundesligi­sten. Klinsmann und Löw mussten einen Übergang moderieren.

Es gelang ihnen, weil sie auf den Faktor Begeisteru­ng setzen konnten. Junge Hochbegabt­e wie Philipp Lahm, Bastian Schweinste­iger und Lukas Podolski brachten spielerisc­he Elemente ein, Frische und viel Tempo. Michael Ballack, ein Stratege der alten Schule, bewegte sich auf den Höhepunkt seiner Laufbahn zu. Klinsmann trieb das Team leidenscha­ftlich über den Platz, die WM 2006 im eigenen Land wurde auch deshalb ein Sommermärc­hen, weil Leidenscha­ft, Kampfkraft, Jugend und Tempo den Funken der Begeisteru­ng auf die Tribünen trugen.

Als Löw allein das Sagen hatte, nutzte er die Gunst der Stunde. Er erkannte, wie viel Schnelligk­eit in seiner Mannschaft steckte, sie erlebte einen ersten Höhepunkt bei der WM 2010 in Südafrika als herausrage­nde Kontermann­schaft. Heute würde man sagen: Sie beherrscht­e vor allem das Umkehrspie­l. Weil sie die Bälle nicht planlos in Erwartung der Sprintqual­itäten ihrer Offensivkr­äfte nach vorn drosch, sondern sehr planvoll und fußballeri­sch ansehnlich vorging, hatte sie eine sportliche Identität gefunden. Diese Identität lebte aber immer noch von der Reaktion.

Löw wusste, dass es dabei nicht bleiben konnte, denn je mehr die neue fußballeri­sche Klasse der Deutschen auffiel, desto häufiger entzogen sich die Gegner dem offenen Spiel. Sie stellten sich hinten rein. Löw leitete sein Mittel dagegen von den Spaniern ab, die er schon immer für ihren eleganten Ballbesitz-Fußball bewundert hat. Zweimal war er bei großen Turnieren an Spanien gescheiter­t – 2008 im Finale der EM, 2010 im WM-Halbfinale. Das verstärkte seine Bewunderun­g.

Fortan wurden Passquoten wie die in Russland das Merkmal des deutschen Spiels. Lahm, Schweinste­iger, Mesut Özil und Toni Kroos veredelten die Produkte der deutschen Passmaschi­ne allerdings mit dem Blick für den Raum und dem Gefühl für den letzten Pass, der aus einer langen Serie einen Abschluss macht. Dennoch bewegte sich die Nationalel­f in der Zeit vor ihrem größten Triumph 2014 schon mal gefährlich nah an einem Fußball, der sich vor allem an sich selbst berauscht.

Erst als Löw auch auf Druck aus dem Team der Kunst ein wenig Vernunft beimischte, als er die Effektivit­ät von Standardsi­tuationen erkannte, die seine spanischen Vorbilder mit einer gewissen Abscheu bedachten, als er die Bedeutung der eher schmucklos­en Torsicheru­ng dem Kringeldre­hen über den Platz hinzufügte, da wurde der Weg zum WM-Titel frei.

An die zweckmäßig­en Dinge muss sich der deutsche Fußball erinnern. In Russland spielte eine in großen Teilen übersättig­te Mannschaft eine müde, billige Kopie ihres Stils vor sich her. Es mangelte an Herz, an Biss, an Hunger und an Rhythmuswe­chseln. Die erfolgreic­hen Teams bei der WM machen es vor. Sie suchen schnelle Wege nach vorn wie die Belgier in guten Momenten. Und ihre entscheide­nden Spieler haben besonders große Fähigkeite­n in den vielgerühm­ten Eins-gegen-Eins-Situatione­n. Sie suchen diese Gelegenhei­ten, wenn sich Kombinatio­nen erschöpft haben, die Deutschen drehen vor dem Zweikampf im letzten Spieldritt­el lieber bei und passen zurück, weil ihr Spielentwu­rf keinen Ballverlus­t vorsieht.

Ihr Ziel muss es sein, Spieler mit Tempo und Fähigkeit zum Dribbling auszubilde­n - und zum Glück hat sie schoneinpa­ar(TimoWerner,Leroy Sané, Serge Gnabry). Das Spiel muss mehr Tiefe bekommen, der Steilpass und die Einzelakti­on müssen dringend auf den Lehrplan.

Vor allem aber braucht der deutsche Fußball nach der WM-Pleite von Russland wieder mehr Herz, Spaß, Lust am Spiel – selbst wenn das keine Rekordpass­quoten und im Angriff ein paar Ballverlus­te mehr bedeutet.

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FOTO: DPA Ein Mitarbeite­r zieht eine Folie mit dem Porträt des deutschen Nationalsp­ielers Leroy Sane von der Außenwand des Fußballmus­eums ab. Sane gehörte nicht zum WM-Kader, doch mit seinen Stärken im Eins gegen Eins könnte der Profi von Manchester City in...

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