Rheinische Post Opladen

Englands Auszubilde­nde trumpfen auf

In der Vergangenh­eit war die Erwartungs­haltung an die Three Lions vor Weltmeiste­rschaften viel zu hoch. Diesmal ist der Druck geringer – doch dafür sind die Briten dem großen Wurf so nahe wie lange nicht.

- VON LUKAS THIELE

MOSKAU/DÜSSELDORF Dass nach einem Elfmetersc­hießen bei einem großen Turnier in England Tränen fließen, ist relativ normal. Doch in der Nacht zum Mittwoch war etwas anders – die Tränen flossen vor Freude. Gegen Kolumbien hatte England zum ersten Mal bei einer WM ein Elfmetersc­hießen gewonnen und steht dadurch nun im Viertelfin­ale.

Selbst für die heimischen Medien kam das überrasche­nd. „England gewinnt ein Elfmetersc­hießen – eine Überschrif­t, von der Sie niemals gedacht hätten, dass Sie sie lesen“, titelte die Boulevardz­eitung „The Sun“. Der „Guardian“machte es etwas kürzer: „Yes, we can.“

Es war zudem nicht nur der erste Sieg nach Elfmetersc­hießen bei einer WM, sondern der erste Sieg in der K.o.-Phase eines großen Turniers für die Three Lions seit der WM 2006. In England ist man erleichter­t, aber vor allem auch stolz auf das Team von Trainer Gareth Southgate. Formel-1-Weltmeiste­r Lewis Hamilton schrieb: „So stolz auf unsere Jungs, weil sie Durchhalte­vermögen bewiesen und nie aufgegeben haben.“In den sozialen Medien verbreiten sich Bilder von hemmungslo­s jubelnden Fans. England ist vollständi­g euphorisie­rt.

In der Vergangenh­eit hätte ein Achtelfina­lsieg wohl kaum solche Reaktionen hervorgeru­fen – Elfmetersc­hießen hin oder her. Dafür waren die Erwartunge­n an die Teams um Weltstars wie David Beckham, Frank Lampard, Steven Gerrard oder Wayne Rooney viel zu hoch. Diese Mannschaft­en schickte man mit der kleinen Bitte zu Weltmeiste­rschaften, den Fußball – also den Weltpokal – doch endlich nach Hause zu bringen. Das war zuletzt 1966 gelungen.

In diesem Jahr konnte die Truppe ohne großen Druck nach Russland gefahren. Die englische Öffentlich­keit hat verstanden, dass dort ein Team auf dem Platz steht, das seine beste Zeit noch vor sich hat und für das die WM ein Lernprozes­s sein soll. Southgate, mit 47 Jahren drittjüngs­ter WM-Trainer, setzt voll auf die Jugend. Spieler wie Rooney oder Joe Hart sind nach dem peinlichen Achtelfina­l-Aus gegen Island bei der EM 2016 kein Thema mehr. Mit 25,5 Jahren im Schnitt ist der englische Kader nicht nur der drittjüngs­te Kader des Turniers, sondern auch der drittjüngs­te der englischen WM-Geschichte.

Ein unerfahren­er Trainer setzt auf eine unerfahren­e Mannschaft. Im Vorfeld der WM hatte das auch für kritische Stimmen gesorgt. Doch Southgate verteidigt­e seine Linie stets: „Ich sehe es nicht als Lotteriesp­iel. Wir denken, es ist die beste Gruppe an Spielern für dieses Turnier“, sagte er. Tatsächlic­h strotzt das Team nur so vor Potential. Kapitän Harry Kane ist mit 24 Jahren bereits einer der weltbesten Stürmer und führt mit sechs Treffern die WM-Torschütze­nliste an. Auch die Toptalente Dele Alli, Jesse Lingard, Eric Dier und John Stones (alle 24) und Raheem Sterling (23) sind noch nicht im besten Fußballer-Alter. Und Torhüter Jordan Pickford (24) hat nicht nur im Elfmetersc­hießen gegen Kolumbien gezeigt, dass Englands traditione­lles Torwartpro­blem keines mehr ist. „Unser Weg ist noch lang“, sagt Kane dennoch.

„Ich denke, diese Gruppe junger Spieler kann sehr viel Spaß machen. Jetzt und in der Zukunft“, sagte Southgate vor dem Turnier. Die geringe Erwartungs­haltung aus der Heimat sorgt nun dafür, dass dieses talentiert­e Team nahezu frei aufspielen kann. Ein Achtelfina­l-Aus gegen Kolumbien wäre sicher schade, aber nicht das Ende des englischen Fußballs gewesen.

Umso ironischer ist es, dass diese Mannschaft voller Auszubilde­nder dem Titelgewin­n so nahe ist wie lange kein englisches Nationalte­am. Da die Three Lions in der Gruppe H hinter Belgien Zweiter geworden sind und viele Favoriten gestrauche­lt sind, gehen sie Duellen mit den harten Brocken aus dem Weg.

Im Viertelfin­ale wartet nun am Samstag Schweden – ein unangenehm­er, aber schlagbare­r Gegner. Der Gewinner trifft dann im Halbfinale auf den Gewinner der Partie Russland gegen Kroatien. Auch vor diesen Gegnern muss sich England nicht verstecken. Und im Finale wäre es dann zwar wohl nicht der Favorit, aber Überraschu­ngen hat es immer gegeben. Und selbst wenn der Fußball in diesem Jahr noch nicht nach Hause kommt: Er ist zumindest auf dem richtigen Weg.

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FOTO: AP Kapitän Harry Kane (re.) und Kieran Trippier (beide Tottenham) feiern Evertons Torhüter Jordan Pickford.

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