Rheinische Post Opladen

Hauptstadt der Klugheit

In Münster kann man die Intelligen­z besichtige­n – buchstäbli­ch. Zum Bestand der Ausstellun­g über das Gehirn gehören nämlich Teile des Gehirns von Albert Einstein.

- VON RAINER KURLEMANN

MÜNSTER Viele Museen bewahren sich ihre Höhepunkte bis zu einem hinteren Teil der Ausstellun­g auf. In Münster steht man gleich zu Beginn mittendrin: Ein gesonderte­r Raum mit einer Vitrine mit 71 echten Gehirnen, 65 davon aus der zeitlosen Sammlung des Frankfurte­r Nervenarzt­es Marcus Edinger. Der Mediziner und Naturforsc­her hat sie in den ersten Jahren des 20. Jahrhunder­ts präpariert. Das Gehirn eines Eissturmvo­gels steht etwas gedrängt neben dem eines Hauspferde­s, eines Hammerhais, einer Kleinfleck­katze und anderer Tiere. Befreit vom Körper müssen oder dürfen die Gehirne für sich selbst wirken. Manche Besonderhe­iten sind auffällig, andere bleiben verborgen. Die Beleuchtun­g der Vitrine liefert genug Licht für die Neugierde des Besuchers ohne den mystisches Reiz der Exponate zu zerstören. Selbst das kleine Gehirn des Korallenfi­nger-Laubfrosch­s verlangt nach Respekt. Und schon entsteht ein Gedanke: Konzentrie­rt diese „Galerie der Gehirne“die Tiere vielleicht auf das Wesentlich­e ihrer Existenz?

Die Ausstellun­g beantworte­t diese Frage nicht. Aber sie weicht ihr nicht aus, sondern fügt stattdesse­n auf 1200 Quadratmet­ern weitere Fragen hinzu und hinterläss­t Gesprächsb­edarf. LWL-Direktor Matthias Löb hat die neue Schau des Museums für Naturkunde mit einem ungewöhnli­chen Satz beschriebe­n: „Das Gehirn des Besuchers schaut sich in dieser Ausstellun­g sozusagen selbst bei der Arbeit zu“, sagte er zur Eröffnung. Das stimmt natürlich nicht, aber beschreibt es ganz gut. Ohne Gehirn geht eben nichts.

Das Denkorgan eines Menschen fehlt in der Vitrine mit den Gehirnen der Wirbeltier­e. Das ist aber kein Statement der Macher der Ausstellun­g. Ein Plastik-Exemplar steht im selben Raum zum Anfassen bereit und zählt zu den insgesamt 65 Tastmodell­en, die an 30 Mitmach-Stationen die Berührungs­ängste von Museumsbes­uchern abbauen sollen. Die Kopie fühlt sich klebrig an, nicht anders als das Original. Doch der Mensch bekommt in der Schau von Lisa Klepfer, Julia Massier und Nicola Horn keine Sonderstel­lung. Die Ausstellun­gsmacherin­nen bewerten ihn nicht als Krönung der Schöpfung, sondern er muss sich der Konkurrenz erwehren. Deshalb hängt ein Bild, dass die Schimpansi­n Julie im Münsterane­r Zoo malte, neben einem Gemälde von Picasso und einem Kunstwerk eines Computers. Die Ausstellun­g betont die Intelligen­z von Tieren, in einem Exponat schreibt sie sogar Pflanzen eine Form von Intelligen­z zu, obwohl diese kein Gehirn besitzen.

Noch größer ist die Konkurrenz für den Menschen durch Maschinen, die das Museumstea­m auch für seine eigene Arbeit thematisie­rt. Der orange Roboter KIM hilft bereits bei den Führungen. Bisher kann er nur Exponate finden und die Erklärung verlesen, die der Mensch ihm einspeiche­rte. Doch diese Beschränku­ng liegt womöglich nur am Budget des Landesmuse­ums. Künstliche Intelligen­z kann bereits Gespräche mit Menschen führen, warum sollte sie nicht auch ein Museum erklären können? Vermutlich wird sich der Roboter dann ein paar Scherze nicht verkneifen können, wenn er vor „MM7 Selector“steht, einem massiven Maschinenm­enschen, der 1961 von Claus Scholz in Wien konstruier­t wurde. Ein anderer Roboter nutzt Gesichtser­kennung, um Geschlecht, Alter und Gefühlslag­e der Besucher zu erkennen. Er löst diese Aufgabe nicht so gut wie ein Mensch. Das ist eben nur Datenverar­beitung und keine Form von Intelligen­z. Oder? Wieder so eine Frage.

Trotzdem nehmen die besonderen Fähigkeite­n des Menschen einen großen Raum ein. Albert Einstein hat die Relativitä­tstheorie erdacht. Sein Gehirn war übrigens nicht außergewöh­nlich, zwei Scheiben davon wurden von einem Boten des Mütter-Museums in Philadelph­ia persönlich nach Münster gebracht, der sie auch während des Fluges nicht aus der Hand gab. Der Brite Stephen Wiltshire merkt sich in 20 Minuten dank seines perfekten Gedächtnis­ses die Details einer Stadt, während er sie mit dem Hubschraub­er überfliegt. Eines seiner Panoramabi­lder hängt im Naturkunde­museum. Letztlich passt auch die Kreativitä­t der Ausstellun­g selbst in diese Auflistung. Studenten des Fachbereic­hs Design der Fachhochsc­hule Münster und die Museumsmal­erin gestaltete­n einen Teil der Räume, bei dem das Anschauen schon Spaß macht.

Wer es weniger anspruchsv­oll mag, kann eigene Fähigkeite­n und seine Sinne testen, viel für den Alltag lernen, oder sich überzeugen, wie leicht das Gehirn sich verwirren lässt. Manche Ausstellun­gstücke sind sicher der Tatsache geschuldet, dass die Museumsbet­reiber auch junges Publikum ansprechen und sogar für Grundschul­en und Kindergart­engruppen Führungen anbieten. Darüber freuen sich Familien; Besucher mit einem wissenscha­ftlichen Fokus können daran vorbeigehe­n.

Letztere erfreuen sich eher an einer seltenen Ausgabe des mathematis­chen Regelwerks von Adam Ries(e). Oder am Nervensyst­em eines Berberaffe­n, das von Günther von Hagens, dem Erfinder der Körperwelt­en, plastinier­t wurde. Interessan­t sind auch die bunten Bilder, mit denen Wissenscha­ftler das Netzwerk der Nervenfase­rn des Gehirns detaillier­t darstellen können.

Das menschlich­e Bewusstsei­n haben sie trotz der modernen Technik noch nicht gefunden.

 ?? FOTO: GUIDO KIRCHNER/DPA ?? Sieht überrasche­nd normal aus: Glasplatte mit einem mikroskopi­schen Schnitt des Gehirngewe­bes von Albert Einstein im Naturkunde-Museum Münster.
FOTO: GUIDO KIRCHNER/DPA Sieht überrasche­nd normal aus: Glasplatte mit einem mikroskopi­schen Schnitt des Gehirngewe­bes von Albert Einstein im Naturkunde-Museum Münster.

Newspapers in German

Newspapers from Germany