Salisbury hält den Atem an
In der britischen Kathedralenstadt sind die Menschen nach der zweiten Nowitschok-Vergiftung beunruhigt.
SALISBURY Er sei heilfroh, sagt Peter Kirkham und wischt sich den Schweiß von der Stirn, „dass dies nicht mein Fall ist“. Während seiner Arbeit als Mordkommissionsleiter bei der weltberühmten Londoner Polizeibehörde Scotland Yard haben seine Beamten immer wieder Grünflächen auf der Suche nach Tatwaffen durchkämmt. „Aber wir wussten auch, wonach wir suchten – blutverschmierte Messer oder Ähnliches.“Kirkham schaut über die Polizeiabsperrung hinüber zum Queen Elizabeth Gardens, ein Park am Ufer des Avon-Flusses im südenglischen Städtchen Salisbury. „Diesmal sind die Kollegen auf Mutmaßungen angewiesen.“
Dass in Salisbury zum zweiten Mal binnen vier Monaten ahnungslose Menschen mit Nowitschok vergiftet wurden, haben die zuständigen Experten bestätigt. Die beiden jüngsten Opfer Dawn Sturgess (44) und Charlie Rowley (45) aus der örtlichen Obdachlosen-Szene wurden Ende Juni bewusstlos ins Kreiskrankenhaus eingeliefert, Sturgess verstarb am Sonntag, Rowley ringt mit dem Tod. Wie aber kamen sie mit dem chemischen Kampfstoff in Berührung? War er in einem Parfümzerstäuber enthalten, einem Glasfläschchen, einer Tube?
Der Pensionist Kirkham ist nach Salisbury gekommen, um britischen TV-Sendern bei der Interpretation der spärlichen Kripo-Informationen zu helfen. Am Sonntag machte auch Innenminister Sajid Javid einen Besuch in dem pittoresken Marktflecken, sprach mit Besuchern und Geschäftsbesitzern, lobte die eingesetzten Fachkräfte von Polizei und Feuerwehr. Der konservative Politiker klang deutlich zurückhaltender als Tage zuvor im Unterhaus, wo er in harschen Worten Aufklärung aus Moskau verlangte. „Wir wollen keine voreiligen Schlüsse ziehen“, sagte Javid vor Ort. Erst müsse die Polizei in Ruhe ihre Arbeit erledigen.
Das kann dauern. An den bekannten letzten Aufenthaltsorten der beiden Opfer, darunter auch dem Queen Elizabeth Gardens, suchen Beamte nach Hinweisen. Wegen der großen sommerlichen Hitze können sie jeweils nur einige Minuten in ihren Spezialanzügen verbringen. Eingesetzt werden auch Gasmasken und Drohnen.
Auf gespenstische Weise wiederholen sich damit in Salisbury und dem zwölf Kilometer entfernten Amesbury, wo Rowley in einem Drogenentzugsprojekt lebte, die Szenen vom vergangenen März. Damals waren auf einer Parkbank mitten in Salisbury der von Grossbritannien aus russischer Haft freigekaufte Ex-Agent Sergej Skripal, damals 66, und seine 33-jährige Tochter Julia bewußtlos aufgefunden worden. Die Grünfläche am Fluss Avon ist nur wenige Fußminuten entfernt vom Queen Elizabeth Gardens, wo sich Sturgess und Rowley am Abend vor ihrer Einlieferung ins Krankenhaus aufhielten. Die Skripals konnten nach wochenlanger Behandlung entlassen werden; öffentliche Erklärungen zu ihrem Fall haben sie nie abgegeben.
Im Fall der Skripals war die Mordwaffe offenbar auf die Türklinke von Sergejs Haus geschmiert, wie sich den extrem spärlichen Informationen der Sonderkommission entnehmen lässt. Diesmal deutet vieles darauf hin, dass es sich bei den beiden Obdachlosen um Zufallsopfer handelt. Kann es also jedermann treffen? Ist das Gift noch immer wirksam, und wie lange?
Auf solche Fragen gibt es keine Antworten. Zum Einen wurde Nowitschok nie großflächig angewendet, über die Verweildauer des Kampfstoffs in der Natur ist wenig bekannt. Zum Anderen sind sich selbst die Experten nicht einig. Im BBC-Radiomagazin Today streiten zur besten Sendezeit die Fachleute darüber, ob Nowitschok durch die Haut in den Körper eindringt oder nur durch den Mund aufgenommen werden kann.
Dementsprechend verhalten ist die Stimmung vor Ort. Enttäuscht seien seine Bürger, sagt der Leiter der Stadtregierung, Matthew Dean. Natürlich mache man sich Sorgen um die Besucherzahlen. „Wir wollen doch der Welt sagen, dass es hier sicher ist. Das ist momentan eine Herausforderung.“Abwartend äußert sich auch Domherr Edward Probert im kühlen Kreuzgang seiner gotischen Kathedrale. Natürlich habe Salisbury einen Schock erlitten, beschreibt der anglikanische Pfarrer die Gefühle seiner Gemeinde. „Aber wir haben uns vor vier Monaten nicht unterkriegen lassen, und das wird diesmal genauso sein.“
Auf einer kleinen Grünfläche haben sich zur Mittagszeit viele Menschen im Schatten großer Buchen niedergelassen. Nur eine Bank bleibt leer. Auf ihr wurden Anfang März die Skripals bewußtlos aufgefunden.