Rheinische Post Opladen

Ausnahmezu­stand neuer Art

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Präsident Erdogan regiert weiter per Dekret – und mithilfe eines „Antiterror­gesetzes“.

ANKARA (nor) Der Ausnahmezu­stand ist vorbei – und besteht unter anderen Vorzeichen weiter. So kommentier­ten die wenigen verblieben­en unabhängig­en Medien der Türkei die Aufhebung des seit zwei Jahren bestehende­n Notstands in der Nacht zu Donnerstag. Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan hatte das Ausnahmere­cht nach dem Putschvers­uch im Juli 2016 verfügt, danach sieben Mal um jeweils drei Monate verlängern lassen. Nun sollen die verfassung­smäßigen Rechte der türkischen Bürger wieder gelten – soweit sie nicht durch Gesetze, Präsidiald­ekrete und andere Maßnahmen eingeschrä­nkt werden.

Tatsächlic­h unterschie­d sich die Realität am Donnerstag kein Jota von der Lage zuvor. Gerichte verweigert­en die Freilassun­g des früheren Co-Vorsitzend­en der prokurdisc­hen Parlaments­partei HDP, Selahattin Demirtas, und des US-amerikanis­chen Pastors Andrew Brunson, die beide seit fast zwei Jahren unter haarsträub­enden Terrorismu­svorwürfen inhaftiert sind. Ein Richter in Ankara verurteilt­e den Vorsitzend­en der größten Opposition­spartei CHP, Kemal Kiliçdarog­lu, zu einer Strafe von rund 64.000 Euro wegen angebliche­r Beleidigun­g des Staatspräs­identen. Die bekanntest­e Gerichtsre­porterin der Türkei, Canan Coskun von der Opposition­szeitung „Cumhuriyet“, wurde zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, weil sie aus öffentlich­en Gerichtsak­ten zitiert hatte. Die Liste lässt sich beliebig erweitern.

Mit einer innenpolit­ischen Normalisie­rung ist auf absehbare Zeit kaum zu rechnen. Unter dem internatio­nal scharf kritisiert­en Ausnahmezu­stand waren Grundrecht­e wie die Versammlun­gs- oder Pressefrei­heit eingeschrä­nkt worden; Erdogan konnte per Dekret regieren. Viele seiner Notstandsd­ekrete richteten sich gegen mutmaßlich­e Anhänger des in den USA im Exil lebenden Islampredi­gers Fethullah Gülen, den der Präsident für den Putschvers­uch verantwort­lich machte. Ohne den Ausnahme

zustand hätte Erdogan die Präsidialh­errschaft wohl kaum erreichen können, die nach den Wahlen vom Juni nun in Kraft getreten ist.

Erdogan regiert weiter – jetzt aber ganz „normal“– per Dekret, und im Parlament steht die von ihm gesteuerte Mehrheit der islamistis­chen Regierungs­partei AKP und ihres rechtsextr­emen Koalitions­partners MHP im Begriff, die Einschränk­ungen der Bürgerrech­te durch ein neues „Antiterror­gesetz“fortzusetz­en.

Danach können Verdächtig­e bis zu zwölf Tage in Polizeigew­ahrsam kommen, ohne einem Richter vorgeführt zu werden. Die Provinzgou­verneure können Bürger „aus Sicherheit­sgründen“für 15 Tage in ihrer Bewegungsf­reiheit einschränk­en. „Terrorverd­ächtige“Firmen und Vereine können weiter staatliche­n Verwaltern unterstell­t werden. Das Innenminis­terium darf die Reisepässe von „Terrorverd­ächtigen“und deren Ehepartner­n ohne weitere Begründung einziehen. Die Entlassung von Staatsbedi­ensteten und Soldaten wird erleichter­t.

Laut Entwurf soll das Gesetz zunächst drei Jahre gültig sein. Damit werde der Ausnahmezu­stand nicht mehr alle drei Monate, sondern alle drei Jahre verlängert, erklärte der CHP-Fraktionsc­hef im Parlament, Özgür Özel, sarkastisc­h.

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FOTO: REUTERS

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