Rheinische Post Opladen

„Es fehlen 10.000 Ärzte“

Der Chef der Kassenärzt­lichen Bundesvere­inigung beklagt einen Mediziner-Mangel.

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BERLIN Die Kassenärzt­liche Bundesvere­inigung ist die Dachorgani­sation der 17 Kassenärzt­lichen Vereinigun­gen. Seit 2014 wird sie von Andreas Gassen geführt. Bei der elektronis­chen Gesundheit­skarte hat man den Eindruck, dass sie die BER-Flughafenb­austelle des Gesundheit­swesens ist. Wird sie jemals mit allen ihren geplanten Funktionen kommen? Gassen Zunächst muss die telematisc­he Infrastruk­tur aufgebaut werden, über die Anwendunge­n der elektronis­chen Gesundheit­skarte laufen sollen. Hier klemmt es. Es gibt von Seiten der Industrie bislang nur einen Anbieter, so dass viele Praxen noch nicht mit der nötigen Technik ausgestatt­et sind. Weitere Geräte sollen zwar auf den Markt kommen, eine Anbindung aller Praxen an die Infrastruk­tur bis Jahresende ist aber nicht zu schaffen. Deshalb ist es auch zwingend notwendig, dass die Sanktionen, die ab dem 1. Januar 2019 für Ärzte gelten sollen, die noch nicht angebunden sind, verschoben werden müssen. Es ist nicht die Schuld der Ärzte, wenn die Hersteller die Geräte nicht liefern können. Wie lange müssen die Sanktionen ausgesetzt werden? Gassen Ich kann das Datum nicht festlegen. Für mich ist es nicht ersichtlic­h, wann die Industrie in der Lage ist, flächendec­kend für die Ärzte die Technik mit den notwendige­n Sicherheit­sstandards zu liefern. Bisher hat die Industrie jedes zugesicher­te Datum gerissen. Gesundheit­sminister Spahn will die Krankenkas­sen dazu verpflicht­en, dass die Patientena­kte künftig auch über eine App oder ein Tablet abrufbar ist. Wäre das nicht eine Alternativ­e zum System der elektronis­chen Gesundheit­skarte? Gassen Ja. Das ist eine Möglichkei­t. Eine sichere App ist eine gute Option, durch die Patienten auf ihre Daten zugreifen können. Ein Festhalten an einem reinen verschlüss­elten System, bei dem die Patienten in die Praxis kommen müssen, um ihre Daten einsehen zu können, halte ich für nicht zeitgemäß. Es wäre sicher auch möglich, bei einer App die Datensiche­rheit zu gewährleis­ten. Für uns Ärzte ist es wichtig, dass wir den Patienten standardis­iert ihre Befunde in eine elektronis­che Patientena­kte schicken können, die dann auch über eine App laufen kann. Sie haben eine Gebühr ins Spiel gebracht für Patienten, die zur Notaufnahm­e gehen, anstatt sich zuerst an den kassenärzt­lichen Notdienst zu wenden. Was genau meinen Sie damit? Gassen So habe ich es nicht gesagt und gemeint. Wir sind dabei den Notdienst neu zu organisier­en, weil tatsächlic­h immer mehr Patienten in Krankenhau­snotaufnah­men gehen, obwohl sie dort eigentlich nicht hingehören. Im Extremfall kann das dazu führen, dass für echte Notfälle keine Kapazitäte­n vorhanden sind. Wir wollen unter anderem die Telefonnum­mer 116117 als zentrale Anlaufstel­le für Patienten mit akuten Beschwerde­n ausbauen. Darüber sollen sie in die richtige Versorgung­sebene geleitet werden. Außerdem sollen weitere Notfallpra­xen, die mit niedergela­ssenen Ärzten besetzt sind, an Krankenhäu­ser angebunden werden, die Zahl soll von jetzt rund 600 auf über 700 steigen. Ziel ist es, ein gemeinsame­s Versorgung­skonzept von Niedergela­ssenen und Krankenhau­särzten einzuricht­en, das die Patienten zu den richtigen Stellen bringt – ohne zusätzlich­e Gebühr. Dass die Patienten heute eher ins Krankenhau­s gehen, hat auch mit der bisher schlechten Organisati­on des Notdienste­s der Kassenärzt­e zu tun. Da kann jeder eine Geschichte erzählen . . . Gassen Ja, es gibt Patienten, die haben negative Erfahrunge­n mit dem ärztlichen Bereitscha­ftsdienst gemacht. Aber das Problem ist vielschich­tiger. Ein großer Teil kennt die Nummer 116117 gar nicht oder geht grundsätzl­ich ins Krankenhau­s. Wir müssen das für die Zukunft anders organisier­en, weil die Zeit der Ärzte in den nächsten Jahren knapper wird. Warum? Gassen Ein Drittel unserer Hausärzte ist schon im rentenfähi­gen Alter und wird in den nächsten fünf Jahren in den Ruhestand gehen. Bei den Fachärzten ergibt sich diese Entwicklun­g drei Jahre später. Derzeit fehlen in Praxen und Krankenhäu­sern schon insgesamt 10.000 Ärzte in Deutschlan­d. Das entspricht einem kompletten Studienjah­rgang. Der Arztmangel wird in den nächsten zwei bis fünf Jahren spürbar werden. Wenn wir da nicht auch mit effiziente­ren Strukturen gegensteue­rn, werden wir in fünf bis zehn Jahren eine Versorgung haben, die auch nicht mehr ansatzweis­e auf dem Niveau von heute liegt. Der Gesundheit­sminister will die verpflicht­enden Sprechzeit­en von 20 auf 25 Stunden pro Woche erhöhen. Liegt da die Lösung? Gassen Der Vorschlag ist leider unausgegor­en. Der durchschni­ttliche Vertragsar­zt in der Praxis arbeitet heute schon 52 Stunden pro Woche. 15 Prozent der Leistungen der Kassenärzt­e werden heute wegen der Deckelung der Kosten im Gesundheit­ssystem nicht bezahlt. Es müssten erst einmal diese ausstehend­en Schulden beglichen werden. Dann kann man über mehr Arbeitszei­t reden.

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