„Wir wollen ein Top-drei-Klub in Europa sein“
Der Ehrenspielführer der Werkself über seinen neuen Job, Vorbild Athletic Bilbao und warum er Thomas Schaaf dankbar ist.
Herr Rolfes, Sie sind seit einigen Wochen neuer „Leiter Jugend und Entwicklung“. Was bedeutet das? Simon Rolfes Ich bin für den gesamten Nachwuchsbereich und auch für den Übergangsbereich von der Jugend zu den Profis verantwortlich. Ziel ist es, unseren Talenten die Chance zu ermöglichen, Profi zu werden. Dafür ist eine ganzheitliche Entwicklung und insbesondere individuelle Förderung der Spieler notwendig. Dass der Nachwuchsbereich immer wichtiger wird, hat nicht erst das WM-Aus der deutschen Mannschaft gezeigt. Der Konkurrenzkampf wird auch im Jugendbereich immer größer. Wir müssen uns von anderen Klubs abgrenzen und ein attraktives Umfeld bieten. Gibt es einen Spieler, für den Sie speziell verantwortlich sind? Rolfes Wir wollen ein Umfeld schaffen, in dem sich die Spieler individuell sehr gut entwickeln können. Sie müssen früh lernen, auch selbst Verantwortung für ihre Karriere und Weiterentwicklung zu übernehmen. Das ist ein entscheidendes Kriterium, ob sie es zum Profi schaffen oder nicht. Diesen Prozess wollen wir mit anschieben und da sind wir als Team gefordert. Inwiefern ist es für Talente überhaupt machbar, eigenverantwortlich zu handeln, wenn Eltern, Trainer und Berater womöglich schon den Weg vorgeben? Rolfes Die Einflüsse von außen machen es mit Sicherheit schwieriger. Immer mehr Leute zerren an den Spielern. Es ist Aufgabe des Vereins, Strukturen zu schaffen, in denen es möglich ist, Freiraum für eine persönliche Entwicklung zu gewähren. Der individuelle Umgang mit Spielern hat Bayer 04 schon immer ausgezeichnet. Bestes Beispiel dafür ist die Geschichte der Brasilianer hier. Paulinho ist jetzt schon der 23. Spieler aus diesem Land. Das funktioniert bei Bayer nur deswegen so gut, weil die Jungs individuell betreut werden. Und das muss auch für unsere Jugend gelten. Wie sieht die individuelle Förderung konkret aus? Rolfes Dazu gehört die technische, taktische und athletische Ausbildung des Spielers. Aber auch die Persönlichkeitsentwicklung und die schulische Bildung sind wichtig. Bei Bayer 04 kann jeder seinen Schulabschluss schaffen. Kai Havertz hat sein Abitur gemacht und nebenbei noch Champions League gespielt. Das ist einzigartig in der Bundesliga. Allerdings heißt das nicht, dass wir nicht auch von anderen Ländern wie Frankreich und Spanien lernen können und müssen. Unterscheidet dieser Eigenantrieb Spieler wie Kai Havertz von anderen Talenten? Rolfes Es ist ein wichtiger Baustein, Verlockungen zu widerstehen und sich durchzubeißen. Vor allem der Übergang vom Jugend- in den Profibereich ist schwierig. In der Jugend gelten einige Spieler als Toptalent und bekommen viel Aufmerksamkeit. Wenn sie dann aber Teil eines Kaders mit Champions-League-Ambitionen werden, fällt diese Aufmerksamkeit plötzlich weg. Talent und Qualität sind wichtig, aber es ist auch viel Mentalität gefragt. Wenn jemand die Schule abbricht, stellt sich die Frage, ob er dann auf dem Platz Widerstände bewältigen kann. Beides lässt sich nicht isoliert voneinander betrachten. Tomasz Kucz, Jakub Bednarczyk, Sam Schreck und Chinedu Ekene sind aus der U19 zu den Profis gewechselt. Wem gelingt der Durchbruch? Rolfes Sie sind Lehrlinge, müssen hart an sich arbeiten und sich weiterentwickeln. Mittrainieren zu dürfen oder Bundesliga zu spielen sind zwei Welten. Sie werden schnell merken, dass bei den Profis ein anderer Wind weht. Den Sprung haben sie erst dann wirklich geschafft, wenn sie auch spielen. Ich habe es als 18-Jähriger selbst miterlebt: In Bremen hatte ich auch einen Profivertrag, durchgesetzt habe ich mich aber erst bei Alemannia Aachen in der 2. Liga und dann bei Bayer 04. Wie sah die Förderung zu Beginn Ihrer Karriere in Bremen aus? Rolfes Thomas Schaaf (damaliger Trainer des SVW; Anm. d. Redaktion) hat mich nicht aufgestellt, ich stand fast nie im Kader und nach zwei Jahren hat er mir auf meine Frage, ob ich den Verein wechseln oder bleiben soll, geantwortet: „Das musst du selbst wissen.“Auch wenn es in diesem Moment hart war. Im Nachhinein bin ich ihm dafür dankbar. Ich habe mir dann die die Frage gestellt: Will ich künftig mit der Straßenbahn zur Uni fahren oder doch lieber im Stadion Fußball spielen? Was haben Sie anders gemacht? Rolfes Ich habe meine Mentalität geändert und wirklich hart gearbeitet und trainiert, um ins Team zu kommen. 2004 wurden wir Deutscher Meister und Pokalsieger, aber ich habe keine Sekunde gespielt. Nach der Saison kam Thomas Schaaf zu mir und sagte: „Du warst nah dran an der ersten Elf.“Er habe mich nur deshalb nicht aufgestellt, weil er am funktionierenden Team nichts ändern wollte, das vom ersten Spieltag an erfolgreich war. Aber meine Trainingsleistungen seien super gewesen. Das war eines der größten Komplimente meiner Karriere. Talent haben viele. Wenn ich das nicht erkannt hätte, dass auch Mentalität dazugehört, hätte ich vielleicht nie in der Bundesliga gespielt. Bayer 04 hat seit 2014 keine U23 mehr und verleiht seitdem verstärkt junge Spieler, um sie zu fördern. Christoph Kramer und Dominik Kohr sind zwei positive Beispiele. Sind weitere Leihen geplant? Rolfes Es war damals eine bewusste Entscheidung, die U23 abzuschaffen. Natürlich sind Leihen eine gute Option, um über einen Zwischenschritt den Sprung zu unseren Profis zu schaffen. Es ist klar, dass nicht alle den Sprung direkt von der A-Jugend in den Kader schaffen. Dann muss man schauen, welche Möglichkeiten es gibt. Welche Rolle spielen die Berater heute? Rolfes Sie spielen keine andere, dafür aber eher eine Rolle. Früher ging das mit 18, 19 los, heute schon ab 15. Die Professionalisierung beginnt früher, das ist auch auf Vereinsseite so. Berater sind grundsätzlich kein Problem, sie gehören zum Geschäft Fußball. Als Verein muss man sich so attraktiv präsentieren, dass die Spieler von sich aus zu Bayer 04 kommen wollen und auch die Berater merken: Hier hat mein Schützling die besten Chancen, Profi zu werden. Nimmt Bayer 04 hierbei eine Vorreiterrolle ein? Rolfes Wir sind schon ein guter Verein, wollen aber trotzdem noch besser werden. Die Konkurrenz ist inzwischen international. Am Ende ist das Ziel, zu den Top-drei-Klubs in Europa zu gehören, was die Qualität der Ausbildung und Entwicklung unserer Spieler angeht. Nur in der Region, im Westen oder deutschlandweit im Vergleich gut aufgestellt zu sein, reicht nicht. Man konkurriert mit allen. Dennoch soll der Ursprung der Werkself immer das Rheinland sein. Kai Havertz, Benjamin Henrichs, Gonzalo Castro, Stefan Reinartz sind tolle Beispiele von Spielern, die aus der Region kommen. Das ist die Basis. Sie waren TV-Experte, Kolumnist, Unternehmer, Student und Fußballreisender. Was fällt nun weg? Rolfes Eigentlich nichts. Ich war in den vergangenen drei Jahren immer im Fußball unterwegs, auch während des Studiums bei der Uefa. Daran ändert sich ja nichts. Deswegen freue ich mich jetzt auf die neue Aufgabe bei Bayer 04. Es ist auch für mich der nächste Schritt. Nach der aktiven Zeit brauchte ich einen gewissen Freiraum, um neue Dinge kennenzulernen. Ich habe mein Netzwerk auch international erweitert, viele Vereine besucht und mich mit Menschen aus aller Welt über den Nachwuchs und die Veränderungen im Fußball ausgetauscht Welcher Klub hat Sie besonders beeindruckt? Rolfes Athletic Bilbao. Sie verpflichten nur Spieler aus dem Baskenland, sind aber neben Real Madrid und dem FC Barcelona der einzige Verein, der seit Ligagründung in Spanien erstklassig ist. Sie haben ein Einzugsgebiet von 1,2 Mio. Menschen und stellen aus diesem Pool ihre Mannschaft. Dass sie es so bis ins Europa-League-Finale geschafft haben, ist eine unglaubliche Erfolgsstory. Sie haben bewiesen, dass sie auch mit vergleichsweise begrenzten Ressourcen außergewöhnliche Erfolge feiern können. Das ist auch ein Ansporn für uns, sich in einem international immer verrückteren Markt weiterzuentwickeln. Wo landet die Werkself am Ende der Saison? Rolfes Die Mannschaft ist sehr talentiert und hat ein stabiles Grundgerüst. Das ist wichtig und hilft den neuen Spielern bei der Integration. Leverkusen hat immer den Anspruch, oben mitzuspielen und daran wird sich auch nichts ändern. Das ist auch unsere Ambition für den Jugendbereich. Wir bilden nicht für den Tabellenzwölften der Bundesliga aus, sondern für ein Team mit internationalem Anspruch. Wer wird Meister? Rolfes Die Bayern sind nach wie vor der Favorit, dahinter kommt Dortmund. Und dahinter folgt eine ganze Reihe von Klubs, zu denen ich in diesem Jahr auch Stuttgart zähle. Sie haben sich gut verstärkt. Mit Michael Reschke macht dort ein ehemaliger Leverkusener gute Arbeit. Die Stuttgarter können einen Sprung nach vorne machen.
„Der Konkurrenzkampf wird auch im Jugendbereich immer größer“Simon Rolfes Ex-Nationalspieler