Ein Haus im See
In Wesel hat ein Landwirt den Kampf um Milchpreise aufgegeben und setzt jetzt auf Hausboote. Die Städter schätzen die Entschleunigung und den Blick aufs Wasser.
WESEL Das klare Wasser glitzert, in sanften Wellen schwappt es ans Ufer. Nur das Plätschern ist zu hören, ansonsten: Ruhe. Und Wasser, so weit das Auge reicht. Die Weseler Stadtteile Bislich und Diersfordt sind von allen Seiten umgeben von Seen, Bächen und Wäldern. Mittendrin haben Dorothee (52) und Volker Dingebauer (58) einen Ferienort geschaffen: Fünf Hausboote liegen am Diersfordter Waldsee. Drei von ihnen strahlen im hellen Holz sibirischer Lärchen, die Boote „Biberburg“und „Eisvogel“sind dunkelgrau. „Die waren auch hell, aber das Holz dunkelt nach“, erklärt Volker Dingebauer.
Über einen Steg erreichen die Gäste ihre Wohnung, die Terrasse führt einmal herum. Auf der Seeseite gibt es eine große Terrasse mit Tisch, Stühlen, Sonnenliegen und einem Hängekorb. Die Boote bieten alles, was Urlauber brauchen: Bett, Bad, Küche, Fernseher, W-Lan und sogar einen Kamin. Die Wände sind dekoriert mit Tierfotos, für ein maritimes Ambiente sorgen Bullaugenfenster. Die ersten zwei Hausboote bieten Platz für vier bis fünf Personen, die neuen für zwei bis drei.
Ein Hausboot wiegt rund 36 Tonnen – „das musste erstmal zum Schwimmen gebracht werden“, sagt Dingebauer. Für den Transport der Boote des tschechischen Fertighäuser-Herstellers Freedomky an den Niederrhein brauchte es pro Haus drei Lkw. Vereinbart ist, dass fünf weitere Hausboote gebaut werden dürfen. Die Dalben, die Pfähle zum Befestigen, stehen bereits.
Die Dingebauers haben außerdem einen Bauernhof, auf dem sie als Landwirte aktiv sind. Im April ging die Molkerei der Familie pleite und wurde mitsamt der 65 Kühe verkauft. „Ohne die Milchwirtschaft sind wird freier“, sagt Volker Dingebauer. „So können wir uns noch stärker auf die Hausboote konzentrieren, die unser erstes Standbein geworden sind.“Im Sommer und Herbst sind schon viele Wochenenden ausgebucht. Hauptsaison ist von Mitte Juni bis Mitte September, die Hausboote werden aber ganzjährig vermietet. Anfangs kamen viele Neugierige aus der Region, heute kommen Gäste von überall her. „Die meisten bleiben drei bis vier Tage“, sagt Dingebauer, „wir hatten aber auch schon Familien, die zwei Wochen geblieben sind. Unsere Zielgruppe sind Menschen mit Stress im Beruf, aber auch Rentner.“Von den Hausbooten aus geht es mit dem Fahrrad knapp drei Kilometer am Diersfordter Waldsee entlang zur ersten Sehenswürdigkeit: Schloss Diersfordt. 1432 wurde es erstmals erwähnt, heute gehört es Petra (55) und Axel Beichert (63). Das Paar aus Oberhausen hatte das Schloss bei einem Ausflug entdeckt. „Wir haben uns sofort in die Anlage verliebt“, erzählt Petra Beichert. Im Jahr 1996 kauften die beiden es und lebten mit ihren drei Kindern dort. Seit 2008 bewohnt die Familie einen anderen Teil des Geländes und nutzt das Schloss für rund 100 Veranstaltungen pro Jahr. „90 Prozent unserer Gäste sind Hochzeitsgesellschaften“, sagt Petra Beichert. „Man hat also immer mit Menschen zu tun, die wunderbar gelaunt sind.“
Die private Anlage im Grünen erstreckt sich auf einer Fläche von 18 Hektar und umfasst das unter Denkmalschutz stehende Schloss, ein Cottage, eine Orangerie sowie mehrere Nebengebäude. Auf dem Gelände steht auch die historische Schlosskirche Diersfordt. Dort findet zweimal im Monat ein regulärer Gottesdienst statt, auch Trauungen werden durchgeführt. Auch in der historischen Orangerie, auf der Apfelbaumwiese und am See finden freie Trauungen statt.
Bevor die Beicherts das Gelände kauften, stand das Schloss 15 Jahre leer. „Es war mit Efeu überwuchert, die Anlage verwildert und durch Vandalismus stark zerstört“, erzählt Petra Beichert. Das Paar schaffte Tonnen Schutt heraus, der Umbau dauerte drei Jahre. Heute hängen prachtvolle Kronleuchter von der Decke, die Wände sind dekoriert mit Gemälden und Fotografien. Aufwändig verzierte Spiegel und Antiquitäten stehen in den Räumen. Das Schloss wurde kernsaniert, Teile des Deckenstucks und neuer Parkettboden kamen hinzu.
Zwischen den Seen und Wäldern können Besucher neun Kilometer ins Stadtzentrum von Wesel radeln und sich das Berliner Tor oder den Willibrordi-Dom ansehen. Sehenswert ist auch die Friedenskirche „Zu den Heiligen Engeln“, die eine besondere Historie hat. Im 18. Jahrhundert bauten die Preußen in Wesel das Fort auf dem Fusternberg als Wehranlage zum Schutz vor Feinden. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Fort – inzwischen als Bunker genutzt – attackiert. „95 Prozent der Stadt wurden im Krieg in Schutt und Asche gelegt, doch eine Bombe, die in die Untergeschosse des Forts fiel, detonierte nicht“, erzählt Stefan Sühling, Pfarrer der Kirchengemeinde Sankt Nikolaus in Wesel.
In der Nachkriegszeit wurde das Fort als Notkirche und Únterkunft für Hilfsbedürftige genutzt. Von 1956 bis 1958 entstand auf dem Fundament die heutige Kirche – aus Kriegsschutt. 2018 feiert sie ihren 60. Geburtstag und lockt Kunst- und Architekturinteressierte an. „Die Kirche hat die Form eines Schiffs“, sagt Sühling, „und die Dachkonstruktion aus Betonguss war für 1956 richtig cool.“Auch das Innere ist außergewöhnlich: „In der Kirche herrscht eine Art Marktplatzatmosphäre“, erklärt der Pfarrer. „Der Raum hat eine besondere Akustik: Für guten Klang braucht es kräftigen, mutigen Gesang. Ein ungewöhnlich moderner Anblick ist auch der rot-orange-schwarze Terrakottaboden.“
Am Abend wieder am Hausboot angekommen, können Gäste ihre Füße im See baumeln lassen. Gegen eine Gebühr darf auch geangelt werden. „Ein Gast hat mal eine sieben Kilogramm schwere Zander und einen Sechs-Kilogramm-Hecht herausgezogen“, erzählt Volker Dingebauer. „Damit hatte er seine Übernachtungskosten wieder raus.“
Abends wirft ein Panoramalicht an der Außenseite sein Licht aufs Wasser. Drei Hausboote haben eine finnische Sauna, in der man den Tag ausklingen lassen kann – mit Blick auf den See.