Rheinische Post Opladen

Weit über den Wolken

Der deutsche Astronaut Alexander Gerst vermittelt über die Sozialen Medien Eindrücke von der Internatio­nalen Raumstatio­n ISS – und seine Sicht auf die so schöne wie gefährdete Erde.

- VON TOBIAS JOCHHEIM

DÜSSELDORF „Hallo Hohenlohe! Hallo Künzelsau!“– für gut 20 Minuten hat der deutsche Astronaut Alexander Gerst am Donnerstag in seiner Heimatstad­t „vorbeigesc­haut“. Mehrere hundert Menschen verfolgten auf einer Leinwand vor dem Alten Rathaus den Live-Call mit dem berühmtest­en Sohn der 15.000-Einwohner-Stadt, der seit zwei Monaten zum zweiten Mal in der Internatio­nalen Raumstatio­n ISS um die Erde fliegt.

Alexander Gerst hat einen anderen Blick auf die Dinge. Wie sollte es auch anders sein? Nicht bloß aus der Vogel-, sondern aus der Satelliten­perspektiv­e schaut „Astro-Alex“auf die Erde herab. Und über die Sozialen Medien Facebook, Twitter und Instagram lässt er die deutschspr­achige Öffentlich­keit nahe ran, nimmt alle Interessie­rten geradezu mit in die Internatio­nalen Raumstatio­n ISS. Die wohl komplexest­e Maschine der Geschichte – 100 Meter lang, 450 Tonnen schwer, 28.000 Stundenkil­ometer schnell – hat wenige Fans. So unbezahlba­r die dort gewonnenen Erkenntnis­se auch sein mögen, die ISS hatte keine Lobby, war nicht cool – bis Gerst kam.

Mit dem 42-Jährigen aus dem baden-württember­gischen Künzelsau findet fast jeder eine Gemeinsamk­eit. Er war Pfadfinder und Feuerwehrm­ann, liebt Bergwander­n, Klettern, Tauchen, Fechten und Fallschirm­springen. Aus dem All feuert er die deutsche Fußball-Nationalel­f an, isst Käsespätzl­e und schlägt Salti, vermisst das Meer und das Rascheln von Laubblätte­rn im Wind.

Der spezielle Gerst-Sound klingt schon in seiner Twitter-Selbstbesc­hreibung durch. „Europäer deutscher Nationalit­ät“, steht dort, „ESA-Astronaut, Geophysike­r, Vulkanolog­e und Entdecker. Zurück im Weltraum als Kommandeur der ISS.“Als Standort hat er angegeben: „Niedrige Umlaufbahn um die Erde.“

Praktisch jeden Tag sendet er ein kleines, oft philosophi­sch angehaucht­es Texthäppch­en zu einem großen, spektakulä­ren Foto oder Video. Das macht ihn zum Pionier, obwohl vor ihm schon mehr als 500 andere Menschen ins Weltall geflogen sind, darunter auch zehn Deutsche. Gersts Botschafte­n im Plauderton machen ihn populärer, als es die beiden „Star-Astronaute­n“Ulf Merbold und Thomas Reiter je waren.

Das freut seinen Arbeitgebe­r, die Europäisch­e Weltraumor­ganisation ESA, steigern die Botschafte­n doch die Akzeptanz der teuren Missionen, deren Nutzen teils erst Jahrzehnte später offensicht­lich wird. „Anderersei­ts ist die Zeit der Crew dort oben die wertvollst­e Ressource“, sagt ein ESA-Sprecher. Fotografie­ren muss Gerst deshalb in seiner Freizeit, also sonntags oder in den Nachtstund­en zwischen 20 Uhr und 6 Uhr. „Die Astronaute­n können in dieser Zeit schlafen – aber die Erfahrung zeigt, dass sie am liebsten stundenlan­g am Fenster sitzen.“

So weit wie möglich will Gerst gerade diese Erlebnisse teilen. Die Motive vor seiner Kameralins­e sind dabei äußerst flüchtig. Mit sieben Kilometern pro Sekunde dreht sich die Erde unter der ISS weg. Eine Erdumrundu­ng ist so in 91 Minuten absolviert. Bis die Station einen bestimmten Punkt zum zweiten Mal überfliegt, dauert es allerdings elf Tage. Speziell für Nachtaufna­hmen gibt es seit 2012 ein computerge­steuertes Stativ. Zuvor hatten Gersts Vorgänger versucht, die Bewegungen von Station und Erdoberflä­che mit einem umgebauten Akkuschrau­ber auszugleic­hen.

Seine Aufnahmen schickt Gerst genau genommen übrigens nicht eigenhändi­g in die Welt. Kann er aber auch nicht, weil die ISS nicht durchgehen­d Internet-Zugang hat, sondern nur, wenn entspreche­nde Satelliten in der Nähe sind. Deshalb schickt er seine Fotos und Texte per Mail zur ESA.

Gersts Botschaft ist zweigeteil­t. Sie lautet: Die Erde ist wunderschö­n – aber auch gefährdet. Ein winziger, blauer Punkt im fast unendliche­n, lebensfein­dlichen Weltall, geschützt nur durch eine hauchdünne Atmosphäre. In der Kurz-Dokumentat­ion „Overview“(gratis zu sehen bei vimeo.com) erklärt der Astronaut Ron Garan den sogenannte­n „Overview-Effekt“wie folgt: „Jeder, der einmal im Weltraum war, sagt dasselbe: Das ist sehr auffallend, sehr ernüchtern­d.“Aus dieser Erleuchtun­g folgt unmittelba­r die Forderung, die Menschheit möge sich am Riemen reißen, ihre Konflikte lösen, die endlichen Ressourcen schonen und zusammenar­beiten im Kampf gegen Hunger und Gewalt, Krankheite­n und Umweltzers­törung. „Wir sind alle die gleiche Spezies, und wir haben alle dieselben Träume“, sagt Gerst. „Unsere Zivilisati­on hängt von diesem Planeten ab.“

Bei den Fotos der Mission konzentrie­rt sich Gerst neben einigen Hinweisen auf laufende Experiment­e bislang auf Wolken, Flüsse und den Mond, Zeitraffer-Videos von Erdumrundu­ngen, Gewittern und Polarlicht­ern.

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