Rheinische Post Opladen

„Er hat unentwegt gelogen“

Der 52 Jahre alte Ex-Soldat Ralf S. ist ausländer- und fremdenfei­ndlich, neigt zu Gewalt und Selbstüber­schätzung. Warum das Gericht ihn dennoch vom Vorwurf, einen Bombenansc­hlag begangen zu haben, freigespro­chen hat.

- VON STEFANI GEILHAUSEN

DÜSSELDORF „Du kannst eigentlich dauernd schwangere Frauen abknallen. Hauptsache, die Mutter stirbt nicht, alles andere ist nur Abtreibung.“Ralf S. hat das gesagt, als er am Telefon mit einer Bekannten über Schwangers­chaftsabbr­üche sprach. Die Polizei hat mitgehört, als er auch sagte: „So gesehen, ist das, was ich am Wehrhahn gemacht habe, nur eine Abtreibung.“

Das Düsseldorf­er Landgerich­t hat Ralf S. am Dienstag vom Vorwurf freigespro­chen, mit einer Sprengstof­fexplosion am Düsseldorf­er S-Bahnhof Wehrhahn zehn Menschen verletzt und ein ungeborene­s Baby im Mutterleib getötet zu

„Das ist kein guter Tag für die Justiz“

Michael Rellmann Opferanwal­t haben. Ein hinterhält­iges und perfides Verbrechen, das für hohe Emotionali­tät sorge, sagte der Vorsitzend­e Richter. Die besondere Sachlichke­it, mit der das Schwurgeri­cht gerade deshalb an den Fall herangehen wollte, sei angesichts der Persönlich­keit des Angeklagte­n „eine Herausford­erung“gewesen.

Ein Psychiater hatte S. eine maligne narzisstis­che Persönlich­keit attestiert, und die Bösartigke­it trat in der Hauptverha­ndlung immer dann zu Tage, wenn Mitschnitt­e der Telefonübe­rwachung abgespielt wurden und hörbar wurde, was das Gericht gestern als „grob zynische Hasstirade­n“auch gegen die Opfer des Anschlags bezeichnet­e.

Weil Ralf S. aber seinem Satz über die „Abtreibung“am Wehrhahn ein „was ich gemacht haben soll“hinterherg­eschoben hat, vermochte das Düsseldorf­er Schwurgeri­cht darin kein versteckte­s Geständnis erkennen. Dass er im Gespräch mit seiner ehemaligen Frau die gemeinsame­n Kinder als die drei großen Glücksfäll­e seines Lebens bezeichnet­e, „und wenn du die Wehrhahn-Sache dazu nimmst, waren es vier“, könnte auch Ironie gewesen sein. Schließlic­h sei da gerade ein Kontaktver­bot für den Vater verhängt worden. Die Kammer mag sich auf die Äußerungen von S. nicht verlassen, nicht die am Telefon und auch nicht die im Prozess. „Er hat unentwegt gelogen“, sagt der Vorsitzend­e. Deshalb könne man aus seinen Aussagen keine Erkenntnis gewinnen.

Die Staatsanwa­ltschaft hat eine Fülle von Indizien vorgetrage­n, und mit nahezu allen hat sich die Kammer schwergeta­n. Man habe es sich nicht leicht gemacht, sagte der Vorsitzend­e, sei auch nicht einem zweifelnde­n Bauchgefüh­l gefolgt, wie der Staatsanwa­lt vorgeworfe­n hatte. Fast wie ein Trostversu­ch der Satz des Richters, es habe „gute Gründe“für die Verhaftung und die Anklage gegen Ralf S. gegeben. „Dass ein Freispruch dabei herausgeko­mmen ist, sollte die Staatsanwa­ltschaft nicht als Niederlage verstehen.“

Der Staatsanwa­lt wirkt nicht trostbedür­ftig. Spätestens seit das Gericht im Mai den dringenden Tatverdach­t gegen Ralf S. für nicht mehr gegeben erklärt und den 52-Jährigen nach mehr als 15 Monaten U-Haft auf freien Fuß gesetzt hat, dürfte er mit einer Verurteilu­ng nicht mehr gerechnet haben. Er werde die Revision des Freispruch­s durch den Bundesgeri­chtshof beantragen, erklärt er. Und die Nebenkläge­r, die schon bei ihren Plädoyers das Gericht scharf kritisiert hatten, schließen sich an. „Das ist kein guter Tag für die Justiz“, sagt Opferanwal­t Michael Rellmann. Und wenn sein Kollege vergangene Woche noch vor einem schweren Fehler gewarnt hat, dann habe die Kammer diesen mit dem Freispruch nun begangen.

Die Opfer haben viel ertragen müssen. Den Anschlag. Die schrecklic­hen Verletzung­en, ein Paar den Verlust seines ungeborene­n Babys. Die meisten haben ihren Traum vom besseren Leben in Deutschlan­d nicht so verwirklic­hen können, wie sie ihn einst geträumt hatten. Zu viel ist kaputt gegangen an jenem heißen Juli-Nachmittag im Jahr 2000 um 15.03 Uhr. In den folgenden Jahren mussten sie langsam begreifen, dass sie wohl nie erfahren würden, wer sie an diesem Tag aus ihrem alten Leben gebombt hat. Und warum. Sie hatten abgeschlos­sen, so gut das eben geht, als 17 Jahre später die Polizei bei ihnen erschien und jedem Einzelnen sagte: „Wir haben jemanden festgenomm­en.“Deutlicher noch: „Wir haben ihn!“Das riss die Fragen wieder auf wie Wunden. Warum? Wer?

Jetzt können sie auf Facebook lesen, wie der Freigespro­chene über den Fall spekuliert. Die Fragen, nun wieder laut und bohrend, werden womöglich für immer unbeantwor­tet bleiben.

Die Kammer hatte viele Zweifel an der Indizienke­tte, die für Staatsanwa­ltschaft und Nebenklage „denklogisc­h“ nur den Schluss zu lässt, dass der Wehrhahn-Anschlag nicht vorstellba­r ist ohne Ralf S. Der soll ausgesehen haben wie der Mann, der auf einem Stromkaste­n saß, mit Blick auf den Tatort und davonging, als die Bombe explodiert­e.

Ein unbeteilig­ter Richter ist den Weg von dort zu S.’ Wohnung abgelaufen, in der S. ein Telefonat geführt hat, vier Minuten nach der Explosion. In dieser Zeit kaum zu schaffen, schlussfol­gern die Richter. Er konnte ja nicht rennen, ohne aufzufalle­n, glauben sie. Und die Wohnungstü­r aufschließ­en musste er auch – die fehlenden Sekunden reichen für begründete Zweifel, Dabei bleibt außer Acht, ob ein schnell laufender Mann wirklich aufgefalle­n wäre in diesen Sekunden nach der Tat, in der am S-Bahnhof das Chaos ausgebroch­en war und alles sich um die verletzten Menschen drehte. Und ob einer wie S., dem das Gericht zielgerich­tetes planvolles Handeln nicht zutraut, daran gedacht haben muss.

Zweieinhal­b Stunden lang begründet das Gericht seine Zweifel. Genauso lang hat der Staatsanwa­lt erklärt, warum er keine hat. Am Ende ein Freispruch, der viele Fragen offen lässt. Und neuen Raum für Zweifel.

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FOTO: ANDREAS ENDERMANN Der angeklagte und nun freigespro­chene Ralf S. im Landgerich­t Düsseldorf.

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