Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Ich bin gesund, mir fehlt gar nichts. – Sie haben ihn also nicht gesehen?“„Wen?“„Den weißen Offizier. Den Ihre Leute den ,Pfeifer’ nennen.“„Nein. Diesem bin ich nicht begegnet. Hinter dem Bahndamm, zwischen den Weidenbüschen, ging eine Patrouille auf zwanzig Schritt Entfernung an uns vorbei. Später, beim Morgengrauen, traf ich auf eine zweite, stieß beinahe mit ihr zusammen, so dicht war der Nebel.“
Vittorin schloss die Augen. Wann hatte er zum ersten Mal von dem weißen Offizier gehört, der seine Leute pfeifend, mit der Reitgerte in der Hand, zum Angriff führte? Der pfeifend die Reihen der Gefangenen abschritt, die roten Offiziere vortreten ließ und niederschoß? Unter dem Gewicht eines dumpfen Hasses hatte Vittorin ihn gesucht, jeden Überläufer hatte er verhört, aber jetzt erst, da er fiebernd, den unaufhörlich bohrenden Gedanken preisgegeben, in der Scheune lag, war es ihm zur Gewißheit geworden, daß dieser Offizier Seljukow war. Seljukow, der mit der Reitpeitsche in der Hand durchs Leben ging, soigniert und blutbespritzt, der parfümierte Mörder –
„Beresin!“stöhnte er. „Wie war es damals, als Sie ihm das Pferd –“
„Sie wissen ja“, gab Beresin zur Antwort. „Vor zehn Tagen. Wir hatten ihm das Pferd unter dem Leib erschossen, wollten ihn lebendig haben. Er aber steht mit seinem hochmütigen Gesicht, raucht eine Zigarette, schießt dabei unaufhörlich aus seinem Revolver. Neben mir fällt Maruschin.“
Das hochmütige Gesicht! Er raucht, während er schießt, seine Zigarette. – Wer hat je Seljukow ohne die Zigarette gesehen? „Weiter! Was geschah weiter?“„Nichts. Sie wissen, wir bekamen Flankenfeuer und mußten zurück.“
Mit einem Ächzen ließ sich Vittorin auf das Stroh niederfallen, seine Augen schmerzten, voll von rotem Nebel war die Scheune. – Mussten zurück. Wenn er damals dabei gewesen wäre, ihm wäre Seljukow nicht entkommen. Er wäre nicht zurückgegangen. Flankenfeuer. Man nimmt Deckung und kämpft weiter!
Ein Frostschauer lief über seinen Rücken. Er stand auf, warf sich den Mantel um und begann, von Unruhe gejagt, wie ein gefangenes Tier in der Scheune auf und ab zu gehen.
Er war krank, er fühlte es. Das Fieber war gestiegen. In der Nacht Gliederschmerzen. Morgen oder irgendwann werden sie mich ins Lazarett schicken. Und wenn ich zurückkomme – wo ist dann das Regiment? Das Regiment wird abgezogen, hat der Bataillonskommandeur Storoschew gesagt, an eine andere Front geworfen, in Miropol stehen schon die Lastautos bereit. Wohin rollt das Äpfelchen? Von Front zu Front wirft die Revolution ihre Truppen, hat Storoschew gesagt, mit Blut und mit Benzin gewinnt die Revolution ihre Schlachten.
Und drüben, hinter der zerschossenen Zuckerfabrik, ist Seljukow. Morgen bin ich vielleicht schon im Lazarett. Man muss handeln, eine Entscheidung erzwingen. „Beresin!“Er hörte nicht. Er liegt auf der Erde, hat die Kerze vor sich hingestellt und liest die Zeitung, den „Roten Frontsoldaten“.
„Beresin! Gehen Sie heute nochmals hinaus?“
„Nachmittags mit vier Leuten auf einen Patrouillengang“, gab Beresin zur Antwort. „Man will doch sehen, wie sich der Nachbar drüben die Zeit vertreibt. Abends stelle ich nur Horchposten auf. – Da lesen Sie, was diese Zeitungsschreiber alles wissen. Da schreibt einer: ,Die Armee fühlt sich als die Resultante der uns beherrschenden ökonomischen, sozialen und politischen Kräfte.’ Nun, er schreibt, wie er’s in den Meetings gelernt hat, an der Front wird er wenig Beifall damit finden. – Genosse Jefimow, lassen Sie das Feuer nicht ausgehen! Gilt als Befehl. – Ich spreche zu meinen Leuten nicht von ökonomischen Kräften, ich sage Ihnen: Ihr seid Helden, ihr seid unüberwindlich – und sie gehen mit mir.“
„Den Patrouillengang nehme ich Ihnen ab, Beresin, ich gehe heute statt Ihrer. Sie sind müde, haben nicht geschlafen.“
„Sie aber, Genosse, sind krank“, meinte Beresin. „Ich kann die Verantwortung nicht auf mich nehmen.“
„Ich bin nicht krank“, schrie Vittorin, vom Fieber geschüttelt. „Ich brauche Wind, Regen, frische Luft, Bewegung, das ist alles. Ich verfaule hier in der Scheune, die Läuse fressen mich, das ist meine Krankheit. Lassen Sie mich statt Ihrer gehen, Genosse!“
„Nun gut, hol’s der Teufel, gehen Sie“, sagte Beresin.
Er gähnte, sah aus halbgeschlossenen Augen noch einmal nach dem Feuer, und dann streckte er sich zum Schlafen aus.
Erst nach Einbruch der Dunkelheit kam Vittorin von seinem Patrouillengang zurück. Seine Leute schickte er sogleich in ihr Quartier, er selbst ging den Fußweg weiter, der an einem Zaun und an einem Erlengehölz vorbei in die Talmulde führte.
Von den Baumkronen fielen schwere Tropfen, es roch nach Erde und nach stehendem Wasser. Durch die Dunkelheit schimmerte das weiß getünchte Bauernhaus, in dem das Regimentskommando untergebracht war.
„Stoj! Kto takoj!“kam halblaut und in singendem Ton der Ruf des Postens. Vittorin blieb stehen. „Swoj. – Von euch einer.“„Parole?“„Komintern.“Vor der Tür des Stabszimmers traf Vittorin den Regimentskommissär, einen jungen Menschen von athletischem Wuchs, dem das Haar in braunen Locken auf Stirn und Nacken fiel.
„Ich habe eine Meldung zu machen, Genosse“, sagte Vittorin, die Finger steif am Schirm seiner Mütze. „Drüben bei den Weißen befindet sich heute Nacht ein höherer Stab.“
Der Kommissär, der zwei Feldzüge und den großen Straßenkampf in Kiew mitgemacht hatte, sah Vittorin aufmerksam und mit einem forschenden Blick ins Gesicht.
„Was für Beobachtungen haben Sie gemacht, Genosse?“
„Ich habe Offiziere in französischen Uniformen gesehen“, berichtete Vittorin. „Dann Pferde mit englischer Sattelung. Ich habe ferner einen Kavallerietelegrafenzug beobachtet, der vor dem Schulgebäude eine Telephonleitung legte.“„Um welche Zeit war das?“„Um fünf Uhr nachmittags.“
(Fortsetzung folgt)