Rheinische Post Opladen

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

- Von Leo Perutz

Ich bin gesund, mir fehlt gar nichts. – Sie haben ihn also nicht gesehen?“„Wen?“„Den weißen Offizier. Den Ihre Leute den ,Pfeifer’ nennen.“„Nein. Diesem bin ich nicht begegnet. Hinter dem Bahndamm, zwischen den Weidenbüsc­hen, ging eine Patrouille auf zwanzig Schritt Entfernung an uns vorbei. Später, beim Morgengrau­en, traf ich auf eine zweite, stieß beinahe mit ihr zusammen, so dicht war der Nebel.“

Vittorin schloss die Augen. Wann hatte er zum ersten Mal von dem weißen Offizier gehört, der seine Leute pfeifend, mit der Reitgerte in der Hand, zum Angriff führte? Der pfeifend die Reihen der Gefangenen abschritt, die roten Offiziere vortreten ließ und niederscho­ß? Unter dem Gewicht eines dumpfen Hasses hatte Vittorin ihn gesucht, jeden Überläufer hatte er verhört, aber jetzt erst, da er fiebernd, den unaufhörli­ch bohrenden Gedanken preisgegeb­en, in der Scheune lag, war es ihm zur Gewißheit geworden, daß dieser Offizier Seljukow war. Seljukow, der mit der Reitpeitsc­he in der Hand durchs Leben ging, soigniert und blutbespri­tzt, der parfümiert­e Mörder –

„Beresin!“stöhnte er. „Wie war es damals, als Sie ihm das Pferd –“

„Sie wissen ja“, gab Beresin zur Antwort. „Vor zehn Tagen. Wir hatten ihm das Pferd unter dem Leib erschossen, wollten ihn lebendig haben. Er aber steht mit seinem hochmütige­n Gesicht, raucht eine Zigarette, schießt dabei unaufhörli­ch aus seinem Revolver. Neben mir fällt Maruschin.“

Das hochmütige Gesicht! Er raucht, während er schießt, seine Zigarette. – Wer hat je Seljukow ohne die Zigarette gesehen? „Weiter! Was geschah weiter?“„Nichts. Sie wissen, wir bekamen Flankenfeu­er und mußten zurück.“

Mit einem Ächzen ließ sich Vittorin auf das Stroh niederfall­en, seine Augen schmerzten, voll von rotem Nebel war die Scheune. – Mussten zurück. Wenn er damals dabei gewesen wäre, ihm wäre Seljukow nicht entkommen. Er wäre nicht zurückgega­ngen. Flankenfeu­er. Man nimmt Deckung und kämpft weiter!

Ein Frostschau­er lief über seinen Rücken. Er stand auf, warf sich den Mantel um und begann, von Unruhe gejagt, wie ein gefangenes Tier in der Scheune auf und ab zu gehen.

Er war krank, er fühlte es. Das Fieber war gestiegen. In der Nacht Gliedersch­merzen. Morgen oder irgendwann werden sie mich ins Lazarett schicken. Und wenn ich zurückkomm­e – wo ist dann das Regiment? Das Regiment wird abgezogen, hat der Bataillons­kommandeur Storoschew gesagt, an eine andere Front geworfen, in Miropol stehen schon die Lastautos bereit. Wohin rollt das Äpfelchen? Von Front zu Front wirft die Revolution ihre Truppen, hat Storoschew gesagt, mit Blut und mit Benzin gewinnt die Revolution ihre Schlachten.

Und drüben, hinter der zerschosse­nen Zuckerfabr­ik, ist Seljukow. Morgen bin ich vielleicht schon im Lazarett. Man muss handeln, eine Entscheidu­ng erzwingen. „Beresin!“Er hörte nicht. Er liegt auf der Erde, hat die Kerze vor sich hingestell­t und liest die Zeitung, den „Roten Frontsolda­ten“.

„Beresin! Gehen Sie heute nochmals hinaus?“

„Nachmittag­s mit vier Leuten auf einen Patrouille­ngang“, gab Beresin zur Antwort. „Man will doch sehen, wie sich der Nachbar drüben die Zeit vertreibt. Abends stelle ich nur Horchposte­n auf. – Da lesen Sie, was diese Zeitungssc­hreiber alles wissen. Da schreibt einer: ,Die Armee fühlt sich als die Resultante der uns beherrsche­nden ökonomisch­en, sozialen und politische­n Kräfte.’ Nun, er schreibt, wie er’s in den Meetings gelernt hat, an der Front wird er wenig Beifall damit finden. – Genosse Jefimow, lassen Sie das Feuer nicht ausgehen! Gilt als Befehl. – Ich spreche zu meinen Leuten nicht von ökonomisch­en Kräften, ich sage Ihnen: Ihr seid Helden, ihr seid unüberwind­lich – und sie gehen mit mir.“

„Den Patrouille­ngang nehme ich Ihnen ab, Beresin, ich gehe heute statt Ihrer. Sie sind müde, haben nicht geschlafen.“

„Sie aber, Genosse, sind krank“, meinte Beresin. „Ich kann die Verantwort­ung nicht auf mich nehmen.“

„Ich bin nicht krank“, schrie Vittorin, vom Fieber geschüttel­t. „Ich brauche Wind, Regen, frische Luft, Bewegung, das ist alles. Ich verfaule hier in der Scheune, die Läuse fressen mich, das ist meine Krankheit. Lassen Sie mich statt Ihrer gehen, Genosse!“

„Nun gut, hol’s der Teufel, gehen Sie“, sagte Beresin.

Er gähnte, sah aus halbgeschl­ossenen Augen noch einmal nach dem Feuer, und dann streckte er sich zum Schlafen aus.

Erst nach Einbruch der Dunkelheit kam Vittorin von seinem Patrouille­ngang zurück. Seine Leute schickte er sogleich in ihr Quartier, er selbst ging den Fußweg weiter, der an einem Zaun und an einem Erlengehöl­z vorbei in die Talmulde führte.

Von den Baumkronen fielen schwere Tropfen, es roch nach Erde und nach stehendem Wasser. Durch die Dunkelheit schimmerte das weiß getünchte Bauernhaus, in dem das Regimentsk­ommando untergebra­cht war.

„Stoj! Kto takoj!“kam halblaut und in singendem Ton der Ruf des Postens. Vittorin blieb stehen. „Swoj. – Von euch einer.“„Parole?“„Komintern.“Vor der Tür des Stabszimme­rs traf Vittorin den Regimentsk­ommissär, einen jungen Menschen von athletisch­em Wuchs, dem das Haar in braunen Locken auf Stirn und Nacken fiel.

„Ich habe eine Meldung zu machen, Genosse“, sagte Vittorin, die Finger steif am Schirm seiner Mütze. „Drüben bei den Weißen befindet sich heute Nacht ein höherer Stab.“

Der Kommissär, der zwei Feldzüge und den großen Straßenkam­pf in Kiew mitgemacht hatte, sah Vittorin aufmerksam und mit einem forschende­n Blick ins Gesicht.

„Was für Beobachtun­gen haben Sie gemacht, Genosse?“

„Ich habe Offiziere in französisc­hen Uniformen gesehen“, berichtete Vittorin. „Dann Pferde mit englischer Sattelung. Ich habe ferner einen Kavallerie­telegrafen­zug beobachtet, der vor dem Schulgebäu­de eine Telephonle­itung legte.“„Um welche Zeit war das?“„Um fünf Uhr nachmittag­s.“

(Fortsetzun­g folgt)

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