Der stille Kanzlerin-Vertreter
Finanzminister Scholz ist mit seiner nüchternen Professionalität zum beliebtesten Politiker aufgestiegen. Jetzt war er erstmals Chef am Kabinettstisch.
BERLIN 27 Minuten lang sitzt Olaf Scholz am Mittwoch auf dem Chefsessel am ovalen Kabinettstisch im Kanzleramt – rekordverdächtig. Der sozialdemokratische Vizekanzler vertritt zum ersten Mal die Bundeskanzlerin, die im Urlaub weilt, man weiß allerdings diesmal nicht so genau, wo. Die sommerlichen Kabinettssitzungen unter den Vizekanzler-Vorgängern Sigmar Gabriel (SPD), Guido Westerwelle oder Philipp Rösler (beide FDP) währten kürzer. Aber unter Scholz werden auch viel mehr Gesetzentwürfe auf den Weg gebracht. Zwei davon hat der Finanzminister selbst vorgelegt – einen zur besseren Bekämpfung des Steuerbetrugs im Online-Handel und einen zum Aufbau eines Sondervermögens zur Finanzierung digitaler Infrastrukturprojekte.
Einen Tag Kanzler sein – für Scholz hat dieser Tag keine große Bedeutung. Allerdings sehen viele den 60-Jährigen noch nicht am Ende der Karriereleiter angekommen. Es könnte gut sein, dass er 2021 für die Sozialdemokraten als Kanzlerkandidat antritt. Aufgestiegen zum beliebtesten Politiker ist er schon. Doch seine SPD dümpelt in den Umfragen weiter bei nur 18 Prozent. Die SPD muss in den kommenden drei Jahren erheblich zulegen, wenn sie den nächsten Kanzler stellen will.
Scholz mahnt die Seinen zur Geduld. Er präsentiert sich als professioneller Macher, der lieber mit Ergebnissen überzeugt als mit starken Worten. Der stille Hamburger ist eine Art Anti-Trump, der Kanzlerin im Politikstil recht ähnlich. Interviews mit ihm können anstrengend werden, weil bei seinen knappen Antworten schnell die Fragen ausgehen. Das britische Wochenmagazin „The Economist“meinte kürzlich, Scholz präsentiere sich als „Vati“der Nation und damit als eine männliche Alternative zur „Mutti“Merkel.
Erst in den vergangenen Wochen ist der nüchterne Scholz erkennbar etwas mehr aus sich herausgekommen. Er konnte ja auch erste Erfolge vorweisen, die Einigung mit Frankreich auf die Fortentwicklung der Eurozone etwa, seinen ersten Bundeshaushalt ohne neue Schulden oder jetzt eben sein Gesetz gegen den Online-Steuerbetrug. Häufiger sitzt er nun für die SPD in den Talkshows, und gern zeigt er dann, dass er auch Substanzielles zu bieten hat und mehr drauf hat als bloße politische Reflexe.
Trotzdem sind die Linken in der SPD nicht zufrieden mit ihm, weil sie seine sozialdemokratische Handschrift im Finanzressort zu wenig erkennen. Tatsächlich hat sich Scholz die Fortsetzung des Kurses der soliden Finanzen auf die Fahnen geschrieben, den sein Vorgänger Wolfgang Schäuble (CDU) geprägt hatte. Scholz glaubt, dass die Wähler ihm das am Ende honorieren werden: Ein Sozi, der endlich mal mit Geld umgehen kann, statt es mit vollen Händen auszugeben. Einer, der langsam, aber stetig gute Arbeit leistet. Gemeinsam mit SPD-Chefin Andrea Nahles bildet Scholz bisher ein konstruktives Duo, auf das sich CDU-Kanzlerin Merkel mehr verlassen konnte als auf die CSU.
Braungebrannt und gut gelaunt präsentiert sich der Hamburger am Kabinettstisch, denn er hat schon ein paar heiße Urlaubstage auf einem Hausboot im Norden hinter sich. Danach auf die Unterschiede zwischen Merkel und Scholz angesprochen, vermerkt Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU): „Ja, sein Jackett war nicht so bunt, aber ansonsten war das sehr professionell.“