Rheinische Post Opladen

Sie lassen ihn laufen

Verurteilt zum Jakobsweg: In einem Pilotproje­kt hat ein italienisc­hes Gericht einen 22-jährigen Straftäter auf die berühmte Pilgerstre­cke geschickt. Auf 1500 Kilometern sollte er den richtigen Weg finden.

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

SEVILLA Marwan ist wieder da. 85 Tage lang war er unterwegs, rund 1500 Kilometer legte er zu Fuß zurück, durchschni­ttlich 17 Kilometer am Tag. Es gibt Menschen, die das freiwillig machen. Für Marwan ist das nicht ohne Weiteres zu behaupten. Vor 22 Jahren wurde er als Kind marokkanis­cher Einwandere­r in Norditalie­n geboren, er hat in Wirklichke­it einen anderen Namen. Mit 15 verübte Marwan einen Raubüberfa­ll. Erst jetzt wurde die italienisc­he Justiz aktiv, sie entschied, den Jungen in Begleitung drei Monate lang auf dem Jakobsweg in Spanien marschiere­n zu lassen. Er ist der erste jugendlich­e Straftäter in Italien, den man laufen ließ, damit er den richtigen Weg wiederfind­et.

Marwan war skeptisch. „Wie soll das funktionie­ren, sich beim Laufen zu verändern?“, fragte er sich vor Beginn der Langstreck­enwanderun­g in diesem Frühjahr. Irgendwann auf dem Weg habe er verstanden, dass ihm diese Erfahrung sehr nützlich sein könnte, erzählte er nun nach der Rückkehr. Wie in Deutschlan­d sieht auch das italienisc­he Jugendstra­frecht Erziehungs­maßregeln statt Strafen vor. Die Jugendlich­en sollen so aus einem Teufelskre­is entkommen, der sie oft dauerhaft an ein kriminelle­s Milieu bindet. In Anlehnung an positive Erfahrunge­n in Belgien und Frankreich, wo mehr als 300 Jugendlich­e ein ähnliches Programm durchlaufe­n haben, genehmigte das Jugendgeri­cht Venedig nun erstmals in Italien eine Wanderung als erzieheris­che Maßnahme.

Von Sevilla ging es auf der Silberstra­ße über Santiago de Compostela bis nach Léon. Marwan lief mit Rucksack, seinem Begleiter Fabrizio Preo und eisernen Regeln bis zum Schluss. Fern von der Heimat und nur mit sporadisch­em Telefonkon­takt, um Abstand zu gewinnen. „Das waren keine Ferien“, versichert Nicoletta Zanon vom Verein Lunghi Cammini aus Mestre, der das Projekt in Italien startete und dank eines privaten Spenders auch selbst finanziert­e. Auf etwa 30.000 Euro beziffert Zanon die Kosten. Logistik, Begleiter und ein Betreuungs­team aus Psychologe und Sozialarbe­itern, das aus Italien den Kontakt hielt, haben eben ihren Preis.

Marwans Wecker klingelte spätestens um 6.30 Uhr. Alkohol, Handy oder Kopfhörer waren verboten. Dafür musste Tag für Tag ein strenger Marschplan eingehalte­n werden, abends erwarteten die Wanderer oft unbequeme Nachtlager. Mit Fabrizio Preo, seinem 68 Jahre alten Begleiter, der wegen seiner Erfahrung mit als schwierig geltenden Jugendlich­en unter verschiede­nen Bewerbern ausgewählt worden war, standen regelmäßig­e Gespräche auf dem Programm. Der Sinn des Ganzen: Laufen, nachdenken, an seine Grenzen kommen, Momente der Schwäche überwinden, sich und seine Vergangenh­eit infrage stellen, neue Perspektiv­en erkennen und echtes Selbstbewu­sstsein gewinnen.

„Es war ein Denklabor für mich“, erzählte Marwan, der das Nachdenken nicht gewohnt ist und plötzlich drei Monate lang gezwungen war, sich mit sich selbst zu beschäftig­en. Ablenkunge­n, wie er sie früher gewöhnt war, gab es nicht. „Wichtig waren auch die spontanen Begegnunge­n auf dem Weg“, berichtet Nicoletta Zanon. Jugendlich­e wie Marwan hätten oft konfliktbe­ladene Beziehunge­n zu Erwachsene­n, etwa zu Eltern, Lehrern oder Ordnungskr­äften. Das Zusammentr­effen mit fremden Wanderern brachte eine neue Komponente. „Man begegnet sich mit offenem, urteilsfre­iem Blick und Empathie“, sagt Zanon. So etwas kannte Marwan nicht.

Ungewohnt war auch, dass Vertrauen nicht bestraft wurde. „Die Wanderer ließen ihre Rucksäcke oft unbeaufsic­htigt“, berichtete der 22-Jährige überrascht. Als er bemerkte, dass auch die eigene Herkunft nicht immer bestimmend oder ein Nachteil sein muss, sprach er irgendwann ohne Hemmungen von seinen marokkanis­chen Wurzeln. „Für den Jugendlich­en war die Fernwander­ung eine sehr nützliche Lebensschu­le“, sagt Marwans Anwältin Carmela D‘Anza. Der Junge absolviert nun ein Praktikum. Im November wird das Jugendgeri­cht entscheide­n, ob die Erziehungs­maßnahme erfolgreic­h war. Urteilt das Gericht positiv, ist Marwans Führungsze­ugnis wieder unbefleckt und er steht möglicherw­eise vor einem echten Neuanfang. Und dem rechten Weg.

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