Erzähl doch mal von früher
Womit hat Opa als Junge gespielt? Wovon hat Oma als junge Frau geträumt? Von früher zu erzählen, ist nicht mehr selbstverständlich. In vielen Familien fehlt es an Zeit, Nähe – und manchmal auch Gelegenheit. Dabei sind die Erfahrungen der Älteren ein Schat
Zum Glück gab es diesen Schuhkarton. Fotografien aus dem Leben der Großeltern lagen darin, ungeordnet, unbeschriftet, die meisten in Schwarz-Weiß. Kinder mit übergroßen Haarschleifen in Hinterhofgärten waren darauf zu sehen, steife Hochzeitsbilder aus düsteren Ateliers oder – auf dem Lieblingsbild – eine Frau mit weißem Haardutt, gutmütigem Gesicht, verschränkten Armen in einem Schaukelstuhl mitten auf der Straße. Nur die Oma kannte die Namen der Menschen, kannte ihre Geschichten und hat sie erzählt, wenn die Enkel wieder bei ihr übernachten wollten. Dieses Ritual war wichtig, denn für Geschichten aus der Familie braucht es Zeit, Bettwärme, ein bisschen Schläfrigkeit. Es braucht Intimität zwischen den Generationen.
Doch als die Oma starb, waren viele Geschichten nicht erzählt. Wo lag er eigentlich genau, der Bauernhof, auf dem sie aufgewachsen war? Was hatte sie als Kind gespielt, wovon als junge Frau geträumt, was war die Enttäuschung ihres Lebens? Man hätte noch so viel fragen können – fragen müssen, um versöhnter zu sein mit der Gewissheit, dass mit dem Tod von Menschen auch deren Geschichten sterben. Ihr Wissen über eine Zeit. Und ihr Empfinden.
Es ist ein Paradox in vielen Familien: Gerade mit den Menschen, die einem besonders nahe stehen, redet man wenig über das, was einmal deren Alltag ausgemacht hat. Man fragt nicht nach dem Nebensächlichen, den Details und Unscheinbarkeiten, die ein Leben doch ausmachen. Die den Erinnerungen Lebendigkeit geben. Oft genug fragt man auch nicht nach dem Einschneidenden, das den Weg eines Menschen gelenkt haben mag, aber womöglich schmerzlich war. Man ist ja so beschäftigt mit der Gegenwart, mit all den Dingen, die anstehen, erledigt werden müssen – und von dem ablenken, was eigentlich besprochen werden sollte. Damit man weiß, woher man kommt.
Familienfeste sind eine gute Gelegenheit, den Dialog zwischen den Generationen zu beginnen. „Man kann dann ganz unbekümmert die Wie-war-das-eigentlich-genau-Fragen stellen“, sagt Sabine Bode. Sie hat mit Büchern wie „Kriegskinder“jene Generation zum Sprechen gebracht, die während des Zweiten Weltkriegs noch nicht erwachsen war. Traumatisierte Kinder, doch davon wollte in den Aufbaujahren niemand etwas wissen.
So lernte die Generation der in den 1930er und 1940er Jahre Geborenen, über die eigenen Verletzungen zu schweigen, lieber die Ärmel aufzukrempeln, an der Zukunft zu arbeiten, um nicht über die Vergangenheit nachdenken zu müssen. „Das Familiengespräch, bei dem ohne besondere Anlässe einfach von früher erzählt wird, ist in Deutschland 1945 abgebrochen“, sagt Bode, „das Erlebte war so katastrophal, dass die Menschen lieber überhaupt nicht zurückgeguckt haben, nicht auf das Schlimme, auch nicht auf das Rettende.“Einzig in manchen Familien, die eine Flucht überstehen mussten, seien die Umstände Thema gewesen, dann aber oft auch nichts anderes als die Flucht.
Nun werden die Kriegskinder alt. In den eigenen Erinnerungen wird das, was lange zurückliegt, stärker und stärker. Und mit den Kindheitserinnerungen wird auch das Bedürfnis zu erzählen wach. „Die Kriegskinder nehmen den Gesprächsfaden zwischen den Generationen wieder auf“, sagt Bode. Viele Menschen aus diesen Jahrgängen haben auch den Drang zu schreiben, verfassen Lebenserinnerungen, publizieren Autobiografien im Selbstverlag oder befassen sich mit der erlebten Geschichte ihrer Stadt. „Die Menschen wollen Zeugnis ablegen von dem, was sie erlebt haben“, sagt Bode, „sie haben wenig Beachtung erfahren – auch in ihren Traumata – doch nun wollen sie ihre Erlebnisse weitergeben.“
Natürlich entstehen so auch Familienlegenden: Menschen deuten die Vergangenheit um, erinnern sich so, dass das Geschehene in ihr Selbstbild passt. Und in das Bild, das die Familie von ihnen hat. Die verdrängten Wahrheiten solcher Familienlegenden können negative Wirkung entfalten. Das lässt sich nur beenden, wenn die nachfolgende Generation nachfragt, auch auf eigene Faust nachforscht, um ein wahrhaftiges Bild der Familiengeschichte zu erhalten.
Die Kinder der Kriegskinder und deren Kinder dürften es leichter haben, unbefangen aus den eigenen Biografien zu erzählen. Obwohl jede Generation mit Ereignissen ringt, denen sie sich ungern stellt. So erklärt Bode etwa, dass in Deutschland erst spät Filme über die RAF finanziert werden konnten. „Regisseure, die Geschichten dazu erzählen wollten, stießen auf Widerstände bei Redakteuren, die ’68 selbst erlebt hatten, und für die das Abgleiten von Teilen der Bewegung in linken Terror schmerzlich war.“
So hat Geschichte Einfluss auf die Geschichten, die in Familien weitergegeben werden. Doch braucht es dazu auch die Neugier der Jüngeren. Familien leben heute oft weit versprengt, also kommt es seltener zum Austausch über das, was einmal war. So ist der Erfolg von Büchern zu erklären, die mit einem Fragenkatalog Anleitung für das Erzählen zwischen den Generationen geben. Im Knaur-Verlag heißen sie „Oma, erzähl mal!“oder „Papa, erzähl mal!“, in anderen Verlagen einfach „Erinnerungsbücher“, und lassen viele Zeilen Platz zum Schreiben. So ermuntern sie die Älteren, ein „Album“ihres Lebens zu verfassen und den Jüngeren zu schenken. Wer das ausprobieren möchte, findet einige Fragen rechts auf dieser Seite.
Ulrich Kühnen hatte schon vor fast 20 Jahren das Bedürfnis, mit seinem Vater über dessen Leben zu reden – und dieses Gespräch festzuhalten. So kaufte er sich damals eine Videokamera, notierte alle seine Fragen – mehr als drei Seiten ergab das am Ende – und bat seinen Vater um ein Interview. „Mir ging es nicht nur um das, was mein Vater erlebt hat, ich wollte auch eine bleibende, lebhafte Erinnerung daran haben, wie er erzählt hat. Ich wollte ihn als Typen erlebbar machen – für mich und für meine Kinder“, sagt Kühnen.
Das gelang. Der Vater zögerte nur kurz, wollte „sich nicht selbst beweihräuchern“. Doch eigentlich verstand er das Anliegen seines Sohnes sofort und erzählte vor der Kamera ohne Scheu aus seinem Leben: von schlimmen Ereignissen wie der Pogromnacht, die er als Kind miterlebte, von dem, was er seine glücklichste Zeit nannte: von den Jahren direkt nach dem Krieg als er wissenshungrig an die Uni ging. Jede freie Minute verbrachte er damals in der Bibliothek, auch weil das der einzige beheizte Ort war. Am Ende hatte Kühnen mehr als sechs Stunden Gespräch auf Magnetband gebannt und unternahm damit erst einmal – nichts. 2012 starb sein Vater im Alter von 85 Jahren. Erst vier Jahre später holte der Sohn die Bänder wieder hervor, ließ sie digitalisieren und schnitt einige historische Fotos und Dokumente in den Film. Eigentlich hatte er das Material auch kürzen wollen, doch das tat er am Ende kaum. „Das Wiedersehen mit meinem Vater war wunderschön“, sagt Kühnen, der als Professor für Psychologie in Bremen lebt, „er war mir sofort wieder ganz vertraut, seine Gesten, wie er Sätze gebaut hat, das alles wurde wieder lebendig.“Seinen Kindern hat Kühnen den Film noch nicht gezeigt. Aber er selbst schaut ihn sich gelegentlich an. „Manchmal trinke ich dann ein Glas Wein, dann ist es ein bisschen, als verbringe ich einen schönen Abend mit meinem Vater.“
„Ich wollte meinen Vater als Typen erlebbar machen“Ulrich Kühnen, Professor, hat ein Gespräch mit dem Vater gefilmt