Die Angst vor der Rückkehr nach Syrien
Während das Assad-Regime das Land zusehends zurückerobert, wissen viele Flüchtlinge nicht, was aus ihnen werden soll.
DARAA Am 15. März 2011 hatte alles harmlos mit einem Kinderstreich begonnen: „Das Volk will den Sturz des Regimes“, sprühten 15 Teenager im südsyrischen Daraa an eine Wand. Sie wurden verhaftet und übel misshandelt. Eine Protestbewegung dagegen wurde brutal niedergeschlagen. Aus den Demonstrationen entstand ein Bürgerkrieg, der schließlich zu einem internationalen Stellvertreterkrieg wurde. Unlängst hat Syriens Präsident Baschar al Assad seine Truppen wieder nach Daraa geschickt, ließ international geächtete Fassbomben abwerfen und Krankenhäuser bombardieren. Zehntausende Menschen machten sich auf die Flucht, darunter nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks Unicef allein 20.000 Kinder.
Weil Russland einen Abzug der Rebellen aushandelte, waren die Kämpfe nach drei Wochen zu Ende. Nach sieben Jahren haben die Regierungstruppen nun wieder die Kontrolle über die Provinz Daraa übernommen. Ein symbolträchtiger Triumph für den Diktator in Damaskus. Aber keine Erleichterung für die Menschen, die dort leben.
Matthias Leibbrand ist Chef der deutschen Hilfsorganisation Vision Hope mit Sitz im baden-württembergischen Emmendingen. Er kümmert sich seit Beginn des Bürgerkriegs um syrische Flüchtlinge, die nach Jordanien kamen. In Sichtweite der syrischen Grenze eröffnete er 2013 in der Provinz Mafraq einen Kindergarten für traumatisierte syrische Flüchtlingskinder. Die meisten von ihnen stammen aus Daraa. Am Telefon in Amman berichtet Leibbrand, dass unter den Flüchtlingen große Angst herrsche. „Die Streubomben, die über Daraa abgeworfen wurden, machen den Menschen Sorge um ihre Angehörigen dort“, berichtet der Deutsche. „Und dann ist die Rückkehr der Flüchtlinge ein riesiges Diskussionsthema – zurückzukehren zu Assad, gegen den man aufgestanden ist und vor dem man geflohen ist. Besonders die Männer, die mit der Freien Syrischen Armee gegen Assad gekämpft haben, fürchten jetzt seine Rache. Sie haben Angst, dass die jordanische Regierung sie zur Rückkehr drängen wird.“
Anfangs hatten vor allem Bauern und lokale Stammesführer gegen Assad demonstriert. Doch die Regierung behauptet, dass Daraa eine Hochburg der Islamisten gewesen sei. „Es gab einige Gemeinden, die vom IS besetzt waren“, weiß Leibbrand aus den Erzählungen der Flüchtlinge, „aber nur sehr kleine Gebiete“. Ansonsten sei die Provinz Stammesgebiet. Ein islamistisches Problem gäbe es in Daraa nicht. „Kein Vergleich mit dem Norden, wo es rund um Idlib eine Hochburg von Islamisten gibt, die zum Auffangbecken für Kämpfer aus den anderen, von den Regierungstruppen zurückeroberten Landesteilen wurde.“
Von Anfang an handelte Syriens Machthaber Assad nach der Devise: „Wenn ich kaputtgehe, geht ihr mit.“Und von Anfang an bezeichnete er alle seine Gegner als Terroristen. Ein Volk von Terroristen? Mindestens die Hälfte der Einwohner Syriens ging vor sieben Jahren gegen Assad auf die Straße. Es waren seine eigenen Leute, die gegen ihn aufbegehrten, die Freiheit und Gerechtigkeit forderten und ein Ende der Diktatur. Erst nach und nach sickerten islamistische Terroristen ein. Die radikalsten kamen aus dem Irak und bildeten dort den IS. In Daraa aber konnten sie nie Fuß fassen. Das war auch der Grund, warum Russen, Türken und Iraner in einer ihrer Friedensinitiativen für Syrien eine sogenannte Deeskalationszone in der Region Daraa einrichteten, eine Schutzzone für Flüchtlinge. Dass eine solche Zone nichts wert ist, wenn Assad seine Angriffsbefehle gibt, hat man in Daraa erneut gesehen.
Seit die Aufstände in Daraa vor mehr als sieben Jahren begannen, befindet sich Syrien im freien Fall. Jeder zehnte Syrer wurde entweder getötet oder verletzt; die durchschnittliche Lebenserwartung ist von 70,5 Jahre auf 55,4 Jahre gefallen; zwei Drittel aller Syrer haben ihren Lebensunterhalt verloren; 85 Prozent der Menschen leben in Armut; jeder Fünfte verdient sein Geld durch den Krieg – als Kämpfer, Kidnapper oder Plünderer.
Die Situation der Flüchtenden war auch in Daraa katastrophal. Sie wussten nicht wohin. Jordanien hatte die Grenzen dicht gemacht, die Türkei ebenfalls. „Jordanien hat über Jahre hinweg eine enorme Zahl von Flüchtlingen aufgenommen“, sagt Leibbrand, „vor den Syrern kamen schon die Iraker“. Nun habe das Land jedoch seine Kapazitätsgrenzen erreicht. „In der aktuellen Krise um Daraa hat Jordanien keine Syrer mehr aufgenommen. Auch die grüne Grenze ist dicht. Es kommen kaum neue Flüchtlinge.“
Offiziell sind in Jordanien 700.000 syrische Flüchtlinge registriert, Schätzungen gehen allerdings von bis zu einer Million aus. Für ein Land, das selbst nur knapp neun Millionen Einwohner hat, ist dies eine ungeheure Herausforderung. Dass Jordanien nicht selbst in den Strudel des Terrors gerissen wurde, grenzt an ein Wunder. Die jordanische Führung ließ sich nicht provozieren, obwohl der IS im Januar 2015 einen jordanischen Piloten öffentlich bei lebendigem Leibe verbrannte, um das Königreich herauszufordern. „Jordanien hat eine sehr starke Monarchie und ein ausgeprägtes Stammessystem“, analysiert Leibbrand die Situation. Die islamistische Muslimbruderschaft sei seit Jahrzehnten in den politischen Prozess integriert. Kürzlich habe es zwar Demonstrationen gegen zu hohe Steuern und Abgaben gegeben, die aber friedlich verlaufen seien. „Daraufhin setzte der König die Regierung ab und ernannte eine neue. So entstand der Eindruck, dass nicht der Monarch Schuld an der Krise hat, sondern die Regierung, die relativ schnell ausgetauscht werden kann.“
Weil aus Syrien derzeit keine Flüchtlinge mehr kommen, hat sich der Kindergarten auf die veränderte Situation eingestellt und nimmt nun größere Kinder auf. „Die Kindergartenkinder, die wir vor fünf Jahren betreut haben und die extrem traumatisiert waren, gehen jetzt zur Schule, kommen nach Schulschluss zu uns und wir helfen ihnen mit Nachhilfeunterricht und den Schulaufgaben, damit sie dem Unterricht besser folgen können“, sagt Leibbrand. Zwar hätten die Kinder ihre Kriegstraumata inzwischen teilweise überwunden, dafür litten sie nun aber unter anderen Problemen, wie beispielsweise dem beengten Leben in den Lagern. „Wir haben derzeit etwa 110 Kinder, die wir betreuen. Außerdem kümmern wir uns um deren Mütter, bilden sie aus und helfen ihnen, ein Einkommen zu finden.“