Mein Vater, der Fotograf
Volker Krämer war berufsbedingt ständig unter Menschen. Aber einmal im Jahr suchte er die Einsamkeit. Zum Beispiel mit seinem Sohn Felix in Lappland.
Als mein Vater starb, war ich 27 Jahre alt. Ich studierte in Hamburg Kunstgeschichte und war gerade dabei, meine Magisterarbeit fertigzustellen. Dass ich fast 20 Jahre später das Kunstmuseum seiner Heimatstadt leiten würde, ist eine Wendung des Schicksals, die ihm bestimmt gefallen hätte. Als junger Fotograf der Rheinischen Post porträtierte er etliche der Künstler, deren Werke nun im Kunstpalast zu finden sind; etwa Joseph Beuys und Günther Uecker.
Nachdem Henri Nannen meinen Vater 1969 nach Hamburg zum Magazin „Stern“geholt hatte, vermisste er an der Elbe vor allem die rheinische Geselligkeit. Sie verband sich für ihn mit den traditionellen Altstadtkneipen, wie mit dem legendären Szenetreff „Creamcheese“, wo er Stammgast war. Hier feierten meine Eltern ihre Verlobung.
Das Interieur der Künstlerkneipe befindet sich heute im Kunstpalast. Bilder und Kunst – das war durch meinen Vater bei uns immer ein Thema. Wann und wieso funktioniert ein Foto? Wie ist es aufgebaut? Und welche Wirkung hat ein Bild? Das sind Fragen, die er mit mir teilte.
Sein Beruf, der zu großem Teil Berufung war, brachte ihn in die entferntesten Gegenden. Die waren damals noch viel weiter weg als heute. Wer hatte in den 70er und 80er Jahren schon die Gelegenheit, mit dem Auto quer durch Afrika zu fahren, mit den Hippies in Goa zu leben oder in schottischen Schlössern auf Gespensterjagd zu gehen? Zu den Themen meines Vaters gehörten Reportagen aus China genauso wie aus Haiti, dem Iran, der Mongolei oder der deutschen Provinz, die mitunter nicht weniger exotisch war. Hier reichte das Spektrum von Helmut Kohl bis zum Swingerclub, von der Dampfeisenbahn bis Arno Schmidt. Berichte aus Krisenregionen gehörten auch dazu, waren aber die Ausnahme. Dass die Prag-Fotos am Anfang seiner Karriere standen und er am Rande des Kosovo-Konflikts ermordet wurde, erzeugte in der Öffentlichkeit die irrige Vorstellung, er sei ein Kriegsberichterstatter gewesen.
Während sein Job die ständige Begegnung und Auseinandersetzung mit Menschen erforderte, suchte er privat einmal im Jahr die Einsamkeit. Lange bevor Trekking zur Mode wurde, erkundete er mit Ultraleicht-Zelt und Astronauten-Nahrung im Gepäck die Anden, Kanada und Sibirien. Da ich seine Sehnsucht nach unberührter Natur nicht nachvollziehen konnte und er mich von deren Zauber überzeugen wollte, schenkte er mir zum Abitur eine gemeinsame Wanderung durch den in Lappland gelegenen Nationalpark Sarek. Die alpine Gebirgslandschaft gilt als letzte Wildnis Europas. Dass ich damals von der Schönheit dieser Landschaft unbeeindruckt blieb und noch dazu im Laufen versuchte, die „Buddenbrooks“zu lesen, ließ uns den Versuch nach zwei Tagen abbrechen.
Hätten andere Väter sofort den Rückflug gebucht, machten wir uns auf nach Oslo. Ausgerüstet und gekleidet wie für eine Polarexpedition, besuchten wir die Museen. Zur Erinnerung an die Reise schenkte mir mein Vater einen Bildband über Edvard Munch, dessen Werke wir dort gemeinsam bewundert hatten.
Das Titelmotiv der Monografie konnte ich in einer meiner letzten Ausstellungen als Leihgabe zeigen; noch so eine Wendung des Schicksals, die ihn vermutlich gefreut hätte.