„Über das Gericht brach ein Shitstorm herein“
Die Präsidentin des Oberverwaltungsgerichts Münster über den Fall Sami A., Beeinflussung durch die Politik und mangelnden Respekt vor der Justiz.
Wie blicken Sie auf die vergangenen Wochen und den politischen und juristischen Streit um Sami A. zurück? BRANDTS Der Fall des Sami A. wirft Fragen zu Demokratie und Rechtsstaat – insbesondere zu Gewaltenteilung und effektivem Rechtsschutz – auf. Hier wurden offensichtlich die Grenzen des Rechtsstaats ausgetestet. In der Politik, im Landtag und in der Landesregierung sollten die Verantwortlichen sehr genau analysieren, wie die Ausländerbehörde und möglicherweise das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen umgegangen sind. Ich möchte mahnen, dass ein solcher Umgang nicht zum Standard wird. Was meinen Sie genau? BRANDTS Dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen wurden Informationen bewusst vorenthalten, um eine die Abschiebung des Sami A. möglicherweise störende rechtzeitige Entscheidung des Gerichts über ein Abschiebungsverbot zu verhindern. Wie konnte es überhaupt zu dieser Situation kommen? BRANDTS Im Zuge des Verfahrens um Sami A. hat sich erheblicher öffentlicher Druck aufgebaut, dass der mutmaßliche Gefährder endlich abgeschoben werden sollte. Dies ist nicht nur in den Medien, sondern auch von hochrangigen Politikern gefordert worden. Diese Forderung hat Erwartungen geschürt. Erwartungen, dass dies zu geschehen habe. Als das Verwaltungsgericht dann entschied, dass es Hindernisse für eine Abschiebung gibt, war dementsprechend das Unverständnis in der Bevölkerung sehr groß. Muss ein Gericht nicht damit leben? BRANDTS Natürlich grundsätzlich ja. Aber die Unabhängigkeit der Gerichte ist nicht nur formal einzufordern. Nach der Entscheidung ist in den sozialen Medien und auch per Briefpost ein Shitstorm über das Verwaltungsgericht hereingebrochen. Es gab Beleidigungen und Bedrohungen in einem für das Gericht bislang beispiellosen Ausmaß. Das steht einem Rechtsstaat nicht gut zu Gesicht. Aber dürfen Politiker keine Kritik an Urteilen äußern? BRANDTS Doch, natürlich. Aber es ist wenig hilfreich, wenn von der politischen Seite vorschnell gesagt wird, dass die Behörden wohl alles richtig gemacht hätten und alles schon seine Ordnung gehabt habe. Warum? BRANDTS Die Gerichte müssen unabhängig von der Mehrheitsmeinung urteilen. Und jeder sollte sich bewusst machen, dass ein Rechtsstaat sich gerade dadurch bewährt, dass er auch die Rechte von Minderheiten schützt, sogar die Rechte derjenigen, die den Rechtsstaat selbst nicht achten. Der Rechtsstaat muss sich insoweit durchsetzen, dass auch Gefährder, Straftäter und Terroristen einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz und auf Achtung ihrer Menschenwürde haben. Rechnen Sie damit, dass die Politik die Entscheidung aus ihrem Haus respektiert? BRANDTS Ja, das sollte selbstverständlich sein. Ich habe auch keinen Anlass, daran zu zweifeln. Steht der Umgang mit dem Fall Sami A. möglicherweise stellvertretend für ein fehlendes Bewusstsein für die Gewaltenteilung in einer Demokratie? BRANDTS Da kann ich nur für meine Gerichtsbarkeit sprechen. Menschliche Fehler kann es immer geben. Eine gezielte Offenbarung nur der „halben Wahrheit“– so hat der zuständige Senat das Verhalten der Behörden im Fall Sami A. eingestuft – ist aber nicht hinzunehmen. Wir leben in einem soliden Rechtsstaat. Das will ich betonen. Umso mehr müssen wir darauf achten, dass dies auch so bleibt.