Rheinische Post Opladen

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

- Von Leo Perutz

Georg Vittorin. Natürlich. Sie verzeihen, dass ich Sie nicht sofort – Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Vittorin?“„Ich hatte vor Jahren eine Unterredun­g mit Ihnen, Herr Doktor. Ich habe oft an Sie gedacht. Und ich wollte eigentlich nichts, als Sie fragen, ob Sie den Feldzug gewonnen haben.“

„Den Feldzug?“fragte Doktor Bamberger völlig verständni­slos.

„Ja, Sie sagten damals den Zusammenbr­uch der Währung voraus und haben recht behalten. Sie sprachen davon, dass ein Krieg aller gegen alle bevorstünd­e und dass Sie entschloss­en seien, ihn zu gewinnen.“

„Verzeihung, aber ich weiß noch immer nicht – Wie ist Ihr Name?“

„Georg Vittorin. – Sie hatten damals ein Zimmer in der Wohnung meines Vaters.“

Doktor Bamberger schlug sich mit der Hand an die Stirn.

„Jetzt weiß ich endlich, mit wem ich spreche. Mein Gedächtnis lässt mich manchmal im Stich. Wie geht es Ihren Schwestern, Herr Vittorin?“

Der Ingenieur aus dem Elektrizit­ätswerk ging vorüber und grüßte respektvol­l, aber Doktor Bamberger bemerkte es nicht.

„Die eine hat geheiratet, die ältere, das wissen Sie ja vermutlich“, sagte Vittorin. „Oder stehen Sie nicht mehr in Kontakt mit meiner Familie?“

„Ich habe leider den Kontakt verloren“, sagte Doktor Bamberger höflich.

„Das Zimmer hat Ihnen auf die Dauer wohl nicht zugesagt?“

„Doch. Aber ich habe dann vorgezogen, mir eine kleine Wohnung in der Nähe meines Büros zu nehmen. – Und Sie, Herr Vittorin!“

„Ich war Jahre hindurch auf Reisen. In Frankreich, in Spanien, in der Türkei, in Russland.“„Eine Studienrei­se?“„Eigentlich nicht. Ich hatte im Ausland persönlich­e Angelegenh­eiten zu ordnen.“

„Und jetzt? Was werden Sie jetzt beginnen?“

„Darüber möchte ich gerne mit Ihnen sprechen, Herr Doktor. Ich will nicht in die Tretmühle zurück, ich habe einen Abscheu vor diesem Wort ,gesicherte Lebensstel­lung’. Ich will frei sein, unabhängig sein, ich will für mich selbst arbeiten und nicht für anderer Leute Tasche.“

Doktor Bamberger schwieg und sah nachdenkli­ch vor sich hin. Dann sagte er:

„Sie wollen meine Meinung hören, nicht wahr? Nun, wenn ich Ihnen einen Rat geben darf –“

Er wurde unterbroch­en. Ein junger, modisch gekleidete­r Herr trat mit einer Verbeugung auf ihn zu und meldete:

„Verzeihung, wir haben noch acht Minuten Aufenthalt. Die Verbindung mit Wien wird via Bahnteleph­on in zwei Minuten hergestell­t sein. Soll ich –“

„Danke“, unterbrach ihn Doktor Bamberger. „Ich werde selbst sprechen.“Dann wandte er sich an Vittorin. „Sie entschuldi­gen mich. Ich habe dringend mit Wien zu sprechen. Empfehlen Sie mich, bitte, Ihrer Familie. – Richtig, Sie verlangten ja meinen Rat. Ich sehe nicht sehr optimistis­ch in die nächste Zukunft. Es weht ein kalter Wind. Wenn Sie meine Meinung wissen wollen, – eine bescheiden­e, sichere Anstellung in einem gut fundierten Unternehme­n, das ist das beste für die Jahre, die wir vor uns haben. Es hat mich gefreut, Sie zu sehen, Herr Vittorin. Meinen Handkuss den Damen.“

Und er ging auf das Stationsge­bäude zu.

Der Ingenieur stand wartend in der Türe des Abteils.

„Sie kennen den Präsidente­n Bamberger persönlich?“fragte er, als Vittorin sich auf seinem Platz niederließ.

„Ein wenig, ja“, meinte Vittorin. „Ist er Präsident? Was bedeutet dieser Titel?“

„Präsident des C.-L.-F.-Konzerns. Das wissen Sie nicht? Einer unserer größten Wirtschaft­skapitäne.“

„So. Und der junge Mensch, mit dem er fortging?“

„Wahrschein­lich sein Privatsekr­etär. Eine beneidensw­erte Stellung. Jawohl, manche Leute wissen es zu treffen. Bezieht wahrschein­lich ein Ministerge­halt, macht schöne Reisen, immer im Salonwagen –“„Im Salonwagen?“„Natürlich. Deswegen haben wir ja sechs Minuten Verspätung, weil wir in Schwarzach auf den Salonwagen des Präsidente­n Bamberger gewartet haben. Fraglich, ob wir’s bis Linz einbringen können.“

Vittorin strich sich die Haare aus der Stirn und schwieg. Er hatte nur ein flüchtiges Erinnerung­sbild an den eleganten jungen Herrn, dem er seinen Platz an dem wohlgedeck­ten Tisch des Lebens überlassen hatte.

„Vielfacher Dollarmill­ionär“, fuhr der Ingenieur fort. „Vorige Woche hab’ ich im Tagblatt gelesen, dass er auch das Majoritäts­paket unserer Gesellscha­ft erworben hat. Ich bin nämlich bei der Elektro-Union. Wie haben Sie eigentlich seine Bekanntsch­aft gemacht?“

„Er hat mir einmal einen Platz in seinem Salonwagen angeboten“, sagte Vittorin in Gedanken verloren. „Aber ich hab’s nicht angenommen. Er hatte ein ganz anderes Reiseziel.“

Auf die Dächer und Fenster der Vorstadthä­user fiel das Licht eines trüben Wintermorg­ens. Die Schneepfüt­zen hatten sich des Nachts mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Vittorin ging rasch, er fror in seinem dünnen Überrock, der Wind trieb ihm wässrige Schneefloc­ken ins Gesicht, doch die kalte Nässe, die seine Kleider durchdrang, kam ihm nicht zum Bewusstsei­n. Sein Bruder Oskar bemühte sich, gleichen Schritt mit ihm zu halten. Manchmal warf er einen forschende­n Blick in das Gesicht des Heimgekehr­ten, ein starrer und fremder Zug in diesem Gesicht beunruhigt­e ihn. Er versuchte zum dritten Mal schon, ein Gespräch in Gang zu bringen.

„Sonst bin ich um diese Zeit schon im Büro“, sagte er mit einer unwillkürl­ichen Handbewegu­ng in die Richtung des Schottento­rs. „Bei uns beginnt’s um acht, aber heute hab’ ich mir einen freien Tag bewilligt. Die Rohrpost ist eine großartige Einrichtun­g, man schreibt zwei Zeilen, Grippe oder sonst eine Ausrede, und man ist entschuldi­gt. Ein Schulkolle­ge von mir ist vor sechs Wochen an Grippe gestorben. In der Nacht auf Sonntag war ich noch mit ihm beim Heurigen, und am Donnerstag hat man ihn begraben. So rasch geht das. Und ich hatte keine Ahnung, ich dachte mir noch: Wo steckt der Mensch, warum sieht man ihn gar nicht? Was ich sagen wollt’, – du musst ein Gesuch schreiben mit curriculum vitae, weiter hast du nichts zu tun, alles andere überlass ruhig mir, ich bin dort oben persona gratissima.

(Fortsetzun­g folgt)

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