Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Georg Vittorin. Natürlich. Sie verzeihen, dass ich Sie nicht sofort – Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Vittorin?“„Ich hatte vor Jahren eine Unterredung mit Ihnen, Herr Doktor. Ich habe oft an Sie gedacht. Und ich wollte eigentlich nichts, als Sie fragen, ob Sie den Feldzug gewonnen haben.“
„Den Feldzug?“fragte Doktor Bamberger völlig verständnislos.
„Ja, Sie sagten damals den Zusammenbruch der Währung voraus und haben recht behalten. Sie sprachen davon, dass ein Krieg aller gegen alle bevorstünde und dass Sie entschlossen seien, ihn zu gewinnen.“
„Verzeihung, aber ich weiß noch immer nicht – Wie ist Ihr Name?“
„Georg Vittorin. – Sie hatten damals ein Zimmer in der Wohnung meines Vaters.“
Doktor Bamberger schlug sich mit der Hand an die Stirn.
„Jetzt weiß ich endlich, mit wem ich spreche. Mein Gedächtnis lässt mich manchmal im Stich. Wie geht es Ihren Schwestern, Herr Vittorin?“
Der Ingenieur aus dem Elektrizitätswerk ging vorüber und grüßte respektvoll, aber Doktor Bamberger bemerkte es nicht.
„Die eine hat geheiratet, die ältere, das wissen Sie ja vermutlich“, sagte Vittorin. „Oder stehen Sie nicht mehr in Kontakt mit meiner Familie?“
„Ich habe leider den Kontakt verloren“, sagte Doktor Bamberger höflich.
„Das Zimmer hat Ihnen auf die Dauer wohl nicht zugesagt?“
„Doch. Aber ich habe dann vorgezogen, mir eine kleine Wohnung in der Nähe meines Büros zu nehmen. – Und Sie, Herr Vittorin!“
„Ich war Jahre hindurch auf Reisen. In Frankreich, in Spanien, in der Türkei, in Russland.“„Eine Studienreise?“„Eigentlich nicht. Ich hatte im Ausland persönliche Angelegenheiten zu ordnen.“
„Und jetzt? Was werden Sie jetzt beginnen?“
„Darüber möchte ich gerne mit Ihnen sprechen, Herr Doktor. Ich will nicht in die Tretmühle zurück, ich habe einen Abscheu vor diesem Wort ,gesicherte Lebensstellung’. Ich will frei sein, unabhängig sein, ich will für mich selbst arbeiten und nicht für anderer Leute Tasche.“
Doktor Bamberger schwieg und sah nachdenklich vor sich hin. Dann sagte er:
„Sie wollen meine Meinung hören, nicht wahr? Nun, wenn ich Ihnen einen Rat geben darf –“
Er wurde unterbrochen. Ein junger, modisch gekleideter Herr trat mit einer Verbeugung auf ihn zu und meldete:
„Verzeihung, wir haben noch acht Minuten Aufenthalt. Die Verbindung mit Wien wird via Bahntelephon in zwei Minuten hergestellt sein. Soll ich –“
„Danke“, unterbrach ihn Doktor Bamberger. „Ich werde selbst sprechen.“Dann wandte er sich an Vittorin. „Sie entschuldigen mich. Ich habe dringend mit Wien zu sprechen. Empfehlen Sie mich, bitte, Ihrer Familie. – Richtig, Sie verlangten ja meinen Rat. Ich sehe nicht sehr optimistisch in die nächste Zukunft. Es weht ein kalter Wind. Wenn Sie meine Meinung wissen wollen, – eine bescheidene, sichere Anstellung in einem gut fundierten Unternehmen, das ist das beste für die Jahre, die wir vor uns haben. Es hat mich gefreut, Sie zu sehen, Herr Vittorin. Meinen Handkuss den Damen.“
Und er ging auf das Stationsgebäude zu.
Der Ingenieur stand wartend in der Türe des Abteils.
„Sie kennen den Präsidenten Bamberger persönlich?“fragte er, als Vittorin sich auf seinem Platz niederließ.
„Ein wenig, ja“, meinte Vittorin. „Ist er Präsident? Was bedeutet dieser Titel?“
„Präsident des C.-L.-F.-Konzerns. Das wissen Sie nicht? Einer unserer größten Wirtschaftskapitäne.“
„So. Und der junge Mensch, mit dem er fortging?“
„Wahrscheinlich sein Privatsekretär. Eine beneidenswerte Stellung. Jawohl, manche Leute wissen es zu treffen. Bezieht wahrscheinlich ein Ministergehalt, macht schöne Reisen, immer im Salonwagen –“„Im Salonwagen?“„Natürlich. Deswegen haben wir ja sechs Minuten Verspätung, weil wir in Schwarzach auf den Salonwagen des Präsidenten Bamberger gewartet haben. Fraglich, ob wir’s bis Linz einbringen können.“
Vittorin strich sich die Haare aus der Stirn und schwieg. Er hatte nur ein flüchtiges Erinnerungsbild an den eleganten jungen Herrn, dem er seinen Platz an dem wohlgedeckten Tisch des Lebens überlassen hatte.
„Vielfacher Dollarmillionär“, fuhr der Ingenieur fort. „Vorige Woche hab’ ich im Tagblatt gelesen, dass er auch das Majoritätspaket unserer Gesellschaft erworben hat. Ich bin nämlich bei der Elektro-Union. Wie haben Sie eigentlich seine Bekanntschaft gemacht?“
„Er hat mir einmal einen Platz in seinem Salonwagen angeboten“, sagte Vittorin in Gedanken verloren. „Aber ich hab’s nicht angenommen. Er hatte ein ganz anderes Reiseziel.“
Auf die Dächer und Fenster der Vorstadthäuser fiel das Licht eines trüben Wintermorgens. Die Schneepfützen hatten sich des Nachts mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Vittorin ging rasch, er fror in seinem dünnen Überrock, der Wind trieb ihm wässrige Schneeflocken ins Gesicht, doch die kalte Nässe, die seine Kleider durchdrang, kam ihm nicht zum Bewusstsein. Sein Bruder Oskar bemühte sich, gleichen Schritt mit ihm zu halten. Manchmal warf er einen forschenden Blick in das Gesicht des Heimgekehrten, ein starrer und fremder Zug in diesem Gesicht beunruhigte ihn. Er versuchte zum dritten Mal schon, ein Gespräch in Gang zu bringen.
„Sonst bin ich um diese Zeit schon im Büro“, sagte er mit einer unwillkürlichen Handbewegung in die Richtung des Schottentors. „Bei uns beginnt’s um acht, aber heute hab’ ich mir einen freien Tag bewilligt. Die Rohrpost ist eine großartige Einrichtung, man schreibt zwei Zeilen, Grippe oder sonst eine Ausrede, und man ist entschuldigt. Ein Schulkollege von mir ist vor sechs Wochen an Grippe gestorben. In der Nacht auf Sonntag war ich noch mit ihm beim Heurigen, und am Donnerstag hat man ihn begraben. So rasch geht das. Und ich hatte keine Ahnung, ich dachte mir noch: Wo steckt der Mensch, warum sieht man ihn gar nicht? Was ich sagen wollt’, – du musst ein Gesuch schreiben mit curriculum vitae, weiter hast du nichts zu tun, alles andere überlass ruhig mir, ich bin dort oben persona gratissima.
(Fortsetzung folgt)