Ich gehe, also denke ich
ESSAY An diesem Wochenende steigt der 118. Deutsche Wandertag. Er ist die Institutionalisierung einer Bewegung, die in ihren Ursprüngen philosophischer, aber auch politischer Natur ist.
Francesco Petrarca dürfte einer der Ersten gewesen sein. Damals, am 26. April 1336, als er mit seinem Bruder und – wie es zu dieser Zeit üblich war – in Begleitung zweier Diener den Mont Ventoux bestieg. Der ist 1912 Meter hoch, also heutzutage keine extreme alpine Herausforderung. Das Wichtige daran war, dass Petrarca den Weg auf die Bergspitze einfach so machte. Aus Spaß an der Freud gewissermaßen. Keine Flucht trieb ihn dorthin, keine Eroberungslust, keine Aussicht auf Landgewinn; er war „allein vom Drang beseelt, diesen außergewöhnlichen hohen Ort zu sehen“, schreibt er später in seinem Bericht.
Das ist purer Luxus im täglichen Existenzkampf des Mittelalters. Und doch ist es ein Meilenstein für die europäische Geistesgeschichte. Diese Bergtour wird zum Sinnbild für ein Gehen um des Gehens willen. Die Natur wird nicht mehr als Feind gesehen, sondern angeschaut und interessiert betrachtet. Der, der das macht, muss ein freier Geist sein. Auch darum wundert es nicht, dass mit Petrarca ein Dichter und Humanist der Welt so offen gegenübertritt.
Von da an gibt es für die Menschen kein Halten mehr. Auch wenn es nach Petrarcas Gipfelsturm noch etliche Jährchen dauert, bis das Wandern zur Volksbewegung wird. Vor allem die Romantiker sind es im 19. Jahrhundert. Man verlässt die sorgsam gepflegten, vor allem: behüteten Gärten, tritt nun hinaus ins Ungeschützte, vermeintlich Wilde. Allein darin wird erkennbar, welcher Geist im Wandern ruht: der Drang nach Freiheit und der Widerstand gegen Enge und Bevormundung, letztlich auch eine ordentliche Portion Anarchie.
Es geht um die Reform des Lebens; um den Ausbruch aus den damals rasant wachsenden Städten. Und es ist gerade die Jugend, die sich auf den scheinbar ziellosen Wanderweg begibt – Studenten, Gymnasiasten, Dichter und Freigeister. Die Bewegung der Wandervögel schöpft etwas später aus diesen Quellen.
Von einem solchen Geist ist heutzutage immer weniger zu spüren, vor allem dann, wenn das Wandern in seiner institutionalisierten Form tätig wird. Noch bis Montag findet der 118. Deutsche Wandertag statt – diesmal in Lippe-Detmold, „Land des Hermann“, wie es heißt. Keine schlechte Sache, natürlich. Und doch ist die Verbandsarbeit weit von den Ursprüngen eines zweckfreien Gehens entfernt. Gerade vor dem Hintergrund der politischen Wanderschaft wirkt das organisierte Freizeitvergnügen wie eine Art Entschärfung.
Doch das Wandern – oft auch als Marsch bezeichnet – diente im 20. Jahrhundert als politisches Symbol. Dabei ging man lange Wege zu Fuß, selbst oder gerade dann, wenn andere, weit bequemere und schnellere Fortbewegungsmittel verfügbar waren.
Der Marsch wurde Ausdruck von Stärke, er war der Weg der Masse, der Mühe, der Willenskraft. Wer marschierte, erwies sich im wahrsten Sinne des Wortes als standhaft und übte sich im sinnbildlich aufrechten Gang. Rechts wie links, gewaltvoll oder gewaltfrei: Italienische Faschisten marschieren auf Rom 1922, Gandhi begibt sich 1930 auf den sogenannten Salzmarsch gegen die Briten, vier Jahre später geht Mao Tsetung auf den berühmten „Langen Marsch“. Gegen Rassismus marschieren mit Martin Luther King 1963 Tausende Menschen nach Washington, die 68er begeben sich nach ihrer Revolution auf den pragmatisch langen Marsch durch die Institutionen, die Ostermarschierer machen sich bis heute für Frieden und Abrüstung ein paar Tage im Jahr auf den Weg, in Leipzig waren die Montagsdemonstrationen mit ihrem Marsch rund ums Stadtzentrum der Anfang vom Ende des ostdeutschen Arbeiter- und Bauernstaates, und seit zwei Jahren gibt es weltweit den „March of Science“der Wissenschaftler.
Im Wandern ruht Drang nach Freiheit, Widerstand gegen Enge und Bevormundung, letztlich auch Anarchie