400 Meter weit geht es in die Wiehler Tropfsteinhöhle und damit in die Erdgeschichte hinein. Den Kopf muss man viel öfter einziehen als den Bauch.
WIEHL Wer genau hinschaut, sieht Elefanten. Einen großen und einen kleinen. Der Kopf, die Stoßzähne, der Rüssel, alles ist da. Gefragt ist aber ein bisschen Fantasie. „Auf jeden Fall ist das die Lieblingsstelle der meisten Besucher“, sagt Söhnke Ohl, der Menschen gern unter die Erde bringt – in eine Tiefe von anfangs sieben Metern, später sind es 30. „Da ist dann der tiefste Punkt der Tropfsteinhöhle erreicht“, erklärt der 38-Jährige, der Touren leitet und gern auf die Geschöpfe hinweist, die Kalk und Wasser in Tausenden von Jahren geformt haben – scharfe Haifischzähne und erhobene Zeigefinger inklusive. Und eben Elefanten.
Am 4. August 1927 wurde das Ausflugsziel in der Kleinstadt Wiehl (Oberbergischer Kreis) eröffnet – nachdem bereits im Jahr 1860 Sprengungen nicht etwa den erhofften Kalksteinbruch offengelegt, sondern plötzlich den Weg in ein verzweigtes Höhlennetz mit Stalaktiten und Stalagmiten freigegeben hatten. „Denn auf der Erdoberfläche gab es nur eine schmale Sickerspalte und ansonsten keinen Hinweis darauf, dass sich eine Höhle unter dem Berg befindet“, sagt Ohl. Diese Sickerspalte existiert noch heute: Sie dient der Kleinen Wasserfledermaus als Ein- und Ausflugschneise.
Platz für Fledermäuse gibt es reichlich: Zwar messen die Gänge in der Länge insgesamt 1,4 Kilometer, doch dürfen sich Besucher auf nur 400 Metern in die schroffe Landschaft wagen. Die Wege formen eine Acht und sind bequem zu laufen: Den Kopf muss man viel öfter einziehen als den Bauch. An der niedrigsten Stelle hat der Durchgang eine Höhe von 1,55 Meter. Die gesperrten Pfade wären dagegen nur auf den Knien rutschend oder gar bäuchlings robbend zu durchqueren. Und das will keiner der 17.000 bis 20.000 Ausflügler pro Jahr. Während die Elefanten Geschöpfe des Zufalls sind, stammen Muscheln, Korallen und Seelilien aus vergangener Wirklichkeit: Die Fossilien sind zwischen 360 und 420 Millionen Jahre alt und gehören in das geologische Zeitalter des Devon, als das Bergische Land ein Ozean und das Klima tropisch-heiß war. Mit dem Zurückweichen des Wassers wurden harte Steine aus dem weicheren Meeresgestein herausgewaschen, sie widerstanden der Erosion. Oder das Wasser grub Höhlen in die weicheren Gesteine, so auch in Wiehl.
Klar ist, dass sich Jürgen und Mattes Walter nach dem unterirdischen Streifzug auch oberirdische Zeugen dieser unvorstellbaren Zeit ansehen wollen: Danach zieht es Vater und Sohn zu den Dicken Steinen in die Nachbargemeinde Nümbrecht. Diese gigantischen Brocken ruhen im Wald unterhalb von Schloss Homburg. „So was Tolles habe ich nur mal in Bad Reichenhall gesehen“, schwärmt der zwölfjährige Mattes, der im bayrischen Ampfing zu Hause ist, von der Höhle. Sein Vater Jürgen (51) kennt das Wiehler Ziel aus Schülertagen im nahen Waldbröl und von Ausflügen. „An vieles kann ich mich erinnern“, sagt der Motorradfahrer, der an diesem Ferientag Mattes auf den Sozius hebt und ihm die Heimat zeigt.
Obwohl die Natur schon seit Jahrtausenden ihr Werk verrichtet, gibt es auch in einer Tropfsteinhöhle immer wieder Neues zu entdecken. Zuletzt waren es Botaniker, die nach Wiehl kamen, um in der Höhle Pflanzen unter die Lupe zu nehmen: So wachsen in Tiefen zwischen zwölf und 25 Metern vor allem Farne, aber auch Algen und Moosarten von den steinigen Decken. Wie sie dorthin kommen, wisse niemand so recht, sagt Söhnke Ohl. „Vermutlich wird Erbgut aus dem Wald durch das Gestein gespült.“Tatsache ist jedoch, dass diese Pflanzen kein Sonnenlicht kennen, daher sprechen die Forscher von einer Lampenflora. „Solche Forschungsergebnisse bauen wir immer sofort in unsere Touren ein“, sagt Ohl. Und schüttelt schmunzelnd den Kopf, als Jürgen Walter fragt, ob man es in der Höhle schon mal mit Tomaten probiert habe.
Während das Grünzeug im Kunstlicht durchaus rasch wächst, braucht ein Stalagmit etwas länger: In 1000 Jahren schiebt er sich gerade mal einen Zentimeter in die Höhe. Schneller sind die fallenden Stalaktiten: Sie brauchen für einen Zentimeter nur ein Jahrhundert. „Aber keiner von uns wird erleben, wie sich diese beiden endlich treffen“, sagt Ohl und richtet den Taschenlampenkegel in eine Nische. Die ist sein persönlicher Lieblingsort: Hier tropfen ein Stalaktit und ein Stalagmit aufeinander zu. Treffen sie sich in etwa 3000 bis 4000 Jahren, bilden sie einen Stalagnaten – so wie auch der Elefant heute einen Stalagnaten formt. Frei schwingen kann der imaginäre Rüssel lange nicht mehr.
Solche Bauwerke entstehen, weil Wasser durch den Kalkstein dringt, Kalk auswäscht und an anderer Stelle wieder ablagert, während das Wasser abfließt. Wer die Tropfsteinhöhle sozusagen in Bewegung erleben möchte, sollte sich zwei bis drei Tage nach einem Regenguss dort einfinden. „Dann nämlich kommt der Regen aus dem Wald hier unten an“, erklärt Ohl. Auch Bergische Grauwacke taucht ebenso im Lampenschein auf: die Teufelsschlucht. Hier hat es ein Erdbeben gegeben. Oder eine Erdverschiebung. Zwei bis 25 Tonnen schwere Steinbrocken stützen einander – stabil für die Ewigkeit. Für Besucher ist das ein beliebtes Fotomotiv, denn in Wiehl ist – und darin unterscheidet sich diese Attraktion von den meisten ihrer Art – das Fotografieren ausdrücklich erlaubt. Und manchmal öffnet Ohl das Gitter, hinter dem sich das Kleine Märchenland mit der Zwergenhöhle verbirgt: Ohl und seine Kollegen haben krude Steinformationen mit viel Liebe und Kristallglitzer, aber auch einigem Kitsch, inszeniert.
Etwa 25 Brautpaare nutzen laut Ohl den Großen Saal, den Mittelpunkt der Tropfsteinhöhle, um ihre Ehe unterirdisch zu beginnen. Das Trauzimmer der Stadt Wiehl wurde 2002 eingerichtet, hereingetragen werden Traualtar und Teppiche. Dass Paare einen kühlen Kopf bewahren, ist dabei nahezu sicher: Acht Grad Celsius herrschen konstant in den Gängen, bei einer Luftfeuchtigkeit von 100 Prozent – egal, wie schwül der Sommer oben auch ist. „Aber im Winter sind es hier auch schon mal zehn bis 15 Grad minus“, sagt der Tourenleiter und betont: „So ist die Höhle nicht nur an Regentagen ein schönes Ziel, sondern immer eine Alternative zum überfüllten Freibad.“
Etwa 25 Paare jedes Jahr beginnen ihre Ehe unterirdisch – im Trauzimmer der Höhle