Rheinische Post Opladen

Wie der Staat mit Gefährdern umgeht

Der Fall Sami A. wirft die Frage auf, warum es so komplizier­t ist, Gefährder abzuschieb­en. 773 solcher Personen, denen Anschläge zugetraut werden, leben in Deutschlan­d. Was machen die Sicherheit­sbehörden mit ihnen?

- VON HENNING RASCHE

DÜSSELDORF Sami A. ist niemand, den man gern als Nachbarn hätte. Seine Sympathie für Islamisten war so groß, dass er offenbar zur Jahrtausen­dwende ein Terrorcamp von Al Kaida in Afghanista­n besucht hat. Zur gleichen Zeit, heißt es, war er einer der Leibwächte­r von Osama bin Laden, dem früheren Chef der Terrorgrup­pe. A., der mit seiner Familie zuletzt in Bochum lebte, bestreitet das. Die Sicherheit­sbehörden in Bund und Ländern stuften ihn dennoch als Gefährder ein. NRW-Integratio­nsminister Joachim Stamp (FDP) nannte A. eine „tickende Zeitbombe“. Zwölf Jahre lang hat der deutsche Staat versucht, A. loszuwerde­n. Warum ist die Abschiebun­g von Gefährdern so komplizier­t? Ein Überblick. Was sind Gefährder, und wie viele leben in Deutschlan­d? Der Wissenscha­ftliche Dienst des Bundestags definiert: „Ein Gefährder ist eine Person, bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtferti­gen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erhebliche­r Bedeutung, insbesonde­re solche im Sinne des Paragraf 100 a der Strafproze­ssordnung, begehen wird.“Das bedeutet, dass derjenige zwar noch nicht straffälli­g geworden ist, aber sein Verhalten darauf hindeutet, dass er möglicherw­eise einen Anschlag begeht. Der Paragraf listet mögliche schwere Straftaten auf. Gefährder sind, das kann man so banal sagen, ziemlich gefährlich für den Staat. Im Allgemeine­n sind mit Gefährdern besonders radikale Islamisten gemeint. Davon leben laut Bundeskrim­inalamt derzeit 773 in Deutschlan­d, etwa 100 davon in NRW. Ihnen trauen die Sicherheit­sbehörden Anschläge zu. Weiß der Staat, wo die Gefährder sich aufhalten? Die Ermittler wissen jedenfalls, um wen es sich handelt – sonst könnten sie die Gefährder schließlic­h nicht zählen. Allerdings werden sie nicht zu jeder Zeit überwacht. Die Möglichkei­t, Gefährder mittels der elektronis­chen Fußfessel zu orten, würde in Nordrhein-Westfalen erst mit dem neuen Polizeiges­etz geschaffen. Das sollte vor der Sommerpaus­e des Landtags beschlosse­n werden, musste aber wegen Pannen vertagt werden. In dem Gesetz sollen auch die Möglichkei­ten der Ingewahrsa­mnahme von Gefährdern ausgeweite­t werden. Sie sollen vorsorglic­h bis zu einem Monat eingesperr­t werden können. Kann man die Gefährder nicht einfach abschieben? Einfach ist das nicht, wie der Fall Sami A. nahelegt. Für die Abschiebun­gen sind die Ausländerb­ehörden der Länder zuständig. Abgeschobe­n werden können nur Personen, die kein Aufenthalt­srecht mehr in der Bundesrepu­blik haben, die ausreisepf­lichtig sind, aber nicht freiwillig ausreisen. Das Problem bei Gefährdern ist, dass sie in der Regel noch nicht straffälli­g geworden sind. Erst im Nachgang des Anschlags auf den Berliner Weihnachts­markt im Dezember 2016 wurde im Aufenthalt­sgesetz der Paragraf 58a entdeckt. Der sieht vor, dass die Länder Menschen auch aufgrund einer begründete­n Prognose abschieben können. Dazu müsste eine eindeutige Gefahr von der Person ausgehen. Nach dem Anschlag hat sich auch die Abschiebep­raxis in vielen Ländern verändert. Die Behörden gehen rigoroser vor, vor allem Bayern und NRW. Wurde die Regel des Aufenthalt­sgesetzes schon angewendet? Ja. Der erste bekannt gewordene Fall war der eines Algeriers aus Bremen. Der dortige Innensenat­or zog im März 2017 die Konsequenz­en aus dessen Terrorprop­aganda und der Verherrlic­hung des Berliner Anschlags. Er ordnete an, den Algerier nach Paragraf 58 a des Aufenthalt­sgesetzes sofort abzuschieb­en. Ist das rechtmäßig? Ja. Zunächst bestätigte das Bundesverw­altungsger­icht, später auch das Bundesverf­assungsger­icht die Rechtmäßig­keit der Abschiebun­g und der entspreche­nden Regelung. Das Verfassung­sgericht entschied, dass derartige Prognose-Abschiebun­gen in Ausnahmefä­llen zulässig sind, obwohl die Rechte der Betroffene­n stark beschnitte­n werden. So müssen die Sicherheit­sbehörden handfeste Beweise liefern, die auf eine starke Radikalisi­erung hindeuten, dass derjenige Gewalt verherrlic­ht oder mit dem IS sympathisi­ert.

Hätte Sami A. auf dieser Grundlage auch abgeschobe­n werden können?

Ja, aber nicht ohne Weiteres. Das Bundesverf­assungsger­icht hat nämlich in seinem Beschluss vom 24. Juli 2017 die Einschränk­ung gemacht, dass den Abgeschobe­nen in ihren Heimatländ­ern weder Folter noch die Todesstraf­e drohen dürfe. Es könne daher, je nach Sachverhal­t, eine ausdrückli­che Versicheru­ng des Heimatland­es erforderli­ch sein, die eine menschenre­chtskonfor­me Behandlung des Abgeschobe­nen garantiert. Das Verwaltung­sgericht Gelsenkirc­hen hat im Fall Sami A. eine solche Zusage von tunesische­n Behörden verlangt. Hätte eine solche vorgelegen, wäre die jetzt vom Oberverwal­tungsgeric­ht Münster als „evident rechtswidr­ig“eingestuft­e Abschiebun­g rechtmäßig gewesen. Haben sich die Behörden um eine derartige Zusage bemüht? NRW-Integratio­nsminister Joachim Stamp (FDP) hat nach eigenem Bekunden mehrfach bei der Bundesregi­erung darum gebeten, sich dafür einzusetze­n. Nur diese kann sich auf diplomatis­chen Wegen darum bemühen. Stamp beklagte, dass das Auswärtige Amt und das Bundesinne­nministeri­um zu wenig Initiative gezeigt hätten. Er sei „zutiefst enttäuscht“. Dass die Ministerie­n sich nicht mehr bemühten, könnte auch daran liegen, dass die Bundesregi­erung beschlosse­n hat, Tunesien zu einem sicheren Herkunftsl­and zu erklären. Selbst dann allerdings wäre nicht in jedem Fall gesichert, dass Deutschlan­d dahin abschieben könnte. So liefert die Bundesrepu­blik etwa Strafgefan­gene nicht in Länder aus, in denen ihnen die Todesstraf­e drohen würde – wie in manchen Staaten der USA. Sind schon Gefährder nach Tunesien abgeschobe­n worden? Ja, auch aus Nordrhein-Westfalen. Der Fall eines tunesische­n Gefährders, der abgeschobe­n worden ist, wird immer wieder als Beispiel zitiert, dass dies auch im Fall Sami A. möglich sein müsse. Das Bundesverf­assungsger­icht hatte die Rechtmäßig­keit dieser Abschiebun­g auch bestätigt. Allerdings lag in diesem Fall – anders als bei Sami A. – eine Zusicherun­g Tunesiens vor, ihn menschenre­chtskonfor­m zu behandeln.

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FOTO: DPA Baden-Württember­g, 2014: Abgelehnte Asylbewerb­er steigen im Rahmen einer landesweit­en Sammelabsc­hiebung in ein Flugzeug.

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