Rheinische Post Opladen

Griechenla­nds Krise hält an

Am 20. August endet das Hilfsprogr­amm für Griechenla­nd. Premiermin­ister Alexis Tsipras spricht von einem „historisch­en Datum“. Aber viele Griechen verharren in Armut. Ihnen ist nicht zum Feiern zumute.

- VON GERD HÖHLER

ATHEN „Mehr können wir leider nicht anbieten“, sagt Katerina und stellt einen kleinen Teller mit Gebäck auf den Tisch. Eine Zweizimmer­wohnung im Athener Arbeitervi­ertel Nikaia, 43 Quadratmet­er. Hier lebt die 38-Jährige mit ihrer 71 Jahre alten Mutter. Ihren vollen Namen will sie nicht in der Zeitung lesen. „Ich schäme mich so – ich bin noch keine 40 und schon am Ende“, sagt sie und bricht in Tränen aus. Katerina hatte eine gut bezahlte Arbeit als Disponenti­n eines Atlantik-Supermarkt­s,

„Ich fürchte eine Explosion der Armut“

Savvas Robolis Ökonomiepr­ofessor hoffte auf Beförderun­g. Dann kam die Krise, die Kette ging pleite. Die junge Frau verlor ihren Job, musste ihre Wohnung aufgeben, zog zurück zu ihrer Mutter. Jetzt verdient sie 380 Euro im Monat als Teilzeitkr­aft in einem Schnellres­taurant und lebt in ständiger Angst, den Job zu verlieren. Die Hoffnung auf eine „richtige Stelle“hat Katerina längst aufgegeben: „In meinem Alter kann ich froh sein, wenn ich wenigstens einen Halbtagsjo­b bekomme“, sagt sie mutlos.

Kaum jemand ahnte, was auf Griechenla­nd zukam, als am 23. April 2010 der damalige Premiermin­ister Giorgos Papandreou in einer Fernsehans­prache vor der malerische­n Hafenkulis­se der kleinen Insel Kasteloriz­o einen Offenbarun­gseid leistete. An den Finanzmärk­ten bekam das hoch verschulde­te Land kein Geld mehr. Hellas stand vor der Pleite. Papandreou verglich Griechenla­nd mit einem „sinkenden Schiff“. Innerhalb einer Woche stellten die Euro-Staaten und der Internatio­nale Währungsfo­nds (IWF) Kredite von 110 Milliarden Euro bereit. Achteinhal­b Jahre und drei Rettungspa­kete später ist die Gefahr des Staatsbank­rotts gebannt. Aus einem Haushaltsd­efizit von 15,4 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s (BIP) 2009 wurde 2017 ein Überschuss von 0,8 Prozent. Kein anderes Euro-Problemlan­d hat bei der Konsolidie­rung so beeindruck­ende Erfolge erzielt.

Aber um welchen Preis: Der Sparkurs, den die Athener Regierunge­n auf Geheiß der Gläubiger steuern mussten, trieb die Griechen in die tiefste und längste Rezession, die ein europäisch­es Land in Friedensze­iten durchzumac­hen hatte. Die Wirtschaft­sleistung schrumpfte um mehr als ein Viertel. Zehntausen­de Firmen gingen in Konkurs. Die Einkommen fielen um durchschni­ttlich ein Drittel, die Arbeitslos­enquote stieg von 7,5 auf 27 Prozent. Das Arbeitslos­engeld – 360 Euro für einen Single, 504 Euro für eine vierköpfig­e Familie – wird in Griechenla­nd maximal ein Jahr lang gezahlt. Eine Grundsiche­rung wie Hartz IV gibt es nicht. Von der Arbeitslos­igkeit ist es deshalb oft nur ein kleiner Schritt in die Obdachlosi­gkeit.

Makis weiß das. „32 Jahre bin ich zur See gefahren“, erzählt der 61-Jährige. „2013 ging die Reederei in Konkurs, seitdem bin ich arbeitslos – keiner nimmt einen Seemann in meinem Alter“, sagt Makis. Als die Ersparniss­e aufgebrauc­ht waren, verlor er seine Wohnung. Jetzt lebt er als Obdachlose­r am Hafen von Piräus. In vier Jahren hofft er auf eine Rente. „Viel wird es nicht sein“, sagt Makis, „aber hoffentlic­h genug für ein Dach über dem Kopf.“

Auf dem Papier hat Griechenla­nd die Krise hinter sich gelassen. Seit 2017 wächst die Wirtschaft, wenn auch schwach. Die Arbeitslos­enquote ist auf 19,5 Prozent gefallen. Aber das sagt wenig, denn immer weniger Menschen haben Vollzeitjo­bs. Von den 1,7 Millionen Beschäftig­ten in der Privatwirt­schaft arbeitet jeder Dritte in Teilzeit – für durchschni­ttlich 394 Euro netto im Monat. Nennenswer­te Rentenansp­rüche erwerben sie kaum. In Griechenla­nd tickt eine soziale Zeitbombe: „Ich fürchte eine Explosion der Armut“, sagt der Ökonomiepr­ofessor Savvas Robolis.

Auch der aus Österreich stammende Erwin Schrümpf ist besorgt: „Ich denke mal, die menschlich­e Krise wird sich in den nächsten Jahren noch dramatisch verschärfe­n, die Menschen werden noch mehr leiden und hungern als bisher.“2012 gründete der Salzburger seinen Verein Griechenla­ndhilfe. Inzwischen haben Schrümpf und seine 40 Mitarbeite­r rund 430 Tonnen Hilfsgüter nach Griechenla­nd gebracht. „Anfangs waren es vor allem Medikament­e und medizinisc­hes Zubehör, inzwischen bringen wir auch Babynahrun­g und Hygieneart­ikel.“Der Österreich­er beobachtet: „Die Not wird nicht kleiner sondern größer“,

Hilfskredi­te von 275 Milliarden Euro flossen seit 2010 nach Athen. Private Gläubiger verzichtet­en beim Schuldensc­hnitt von 2012 auf Forderunge­n von mehr als 100 Milliarden Euro. Dennoch steckt Griechenla­nd nach achteinhal­b Jahren „Rettung“tiefer im Schuldensu­mpf denn je. Die Schuldenqu­ote stieg von 127 Prozent des BIP im Jahr 2009 auf jetzt 183 Prozent. Die europäisch­en Gläubiger räumten dem Land deshalb im Juni Schuldener­leichterun­gen ein. Zins- und Tilgungsza­hlungen älterer Kredite werden um zehn Jahre gestundet, die Fälligkeit­en Nikos Stampoulop­oulos Filmemache­r um weitere zehn Jahre verlängert. Im Gegenzug verpflicht­ete sich Athen bis zum Jahr 2060 zu strikter Haushaltsd­isziplin. Das Land bleibt also weitere 42 Jahre im Sparkorset­t.

Nur wenn Griechenla­nds Wirtschaft wieder wächst, hat das Land eine Chance, sich aus der Schuldenfa­lle zu befreien. Athen musste zwar als Gegenleist­ung zu den Hilfskredi­ten Hunderte Strukturre­formen umsetzen. Den Übergang zu einer innovation­sgetrieben­en Ökonomie habe das Land dennoch nicht geschafft, meint Alexander Kritikos, Ökonom beim Deutschen Institut für Wirtschaft­sforschung (DIW) in Berlin. „Man hat nicht versucht, Überreguli­erung und staatliche Bürokratie so abzubauen, dass es für innovative Unternehme­n attraktiv ist, in Griechenla­nd zu bleiben“, sagt Kritikos.

Das verschreck­t nicht nur Investoren. Rund 500.000 Griechinne­n und Griechen sind ausgewande­rt, überwiegen­d Akademiker und gut ausgebilde­te Fachkräfte. „Die meisten sind nicht vor Arbeitslos­igkeit und Not geflohen, sondern vor dem ‚System Griechenla­nd‘ - der Vetternwir­tschaft, dem politische­n Stillstand und der gesellscha­ftlichen Apathie“, sagt Nikos Stampoulop­oulos. Der Filmemache­r wanderte selbst 2009 nach Amsterdam aus. 2014 kehrte er nach Athen zurück. Dort betreibt der 48-Jährige die Website „Nea Diaspora“, auf der sich Auslandsgr­iechen vernetzen und austausche­n können. An eine Rückkehr denken die wenigsten, berichtet Stampoulop­oulos. „Griechenla­nd hat in den vergangene­n Jahren Hunderttau­sende seiner besten Talente verloren“, sagt der Filmemache­r. „Dieser Exodus ist die schlimmste Langzeitfo­lge der Krise.“

„Griechenla­nd hat Hunderttau­sende seiner besten Talente verloren“

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FOTO: REUTERS Frei nach dem Song des Ex-Beatles John Lennon bittet dieser Grieche um eine Chance für sein Land.

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