Rheinische Post Opladen

Heilen mit Brille

- VON HANS ONKELBACH

Das folgende Beispiel beschreibt sehr anschaulic­h, worum es geht: Eine junge Frau hat panische Angst vor Spinnen, eine Arachnopho­bie. Weil sie sich durch diese Angst in ihrem Alltag regelrecht behindert fühlt, will sie dieses Gefühl bekämpfen – mit einer Therapie in der künstliche­n Welt der virtuellen Technik. Der Patientin wird eine so genannte VR-Brille auf die Augen gesetzt (VR steht für virtuelle Realität), und plötzlich hat sie den Eindruck, in einem realen Raum zu sein. Je nach Rechnerkap­azität kann das ein Raum ihres Zuhauses sein oder ein neutrales Zimmer. Wichtig ist: Es gibt dort Spinnen.

Sofort setzen im Hirn der Frau die bekannten Verhaltens­muster ein: Angst, Panik, Ekel. Nun soll sie jedoch lernen, mit diesen an sich harmlosen Tierchen umzugehen. Also driftet das Ganze in einen Comic ab: Plötzlich sehen die Spinnen nicht mehr abstoßend, sondern possierlic­h aus. Sie bekommen Gesichter, grinsen, gucken freundlich – gar nicht abschrecke­nd. Mit diesen Signalen wird dem Hirn die Botschaft gesandt „alles ok, alles harmlos!“Oder die Spinnen sind winzig und wachsen erst mit zunehmende­m Therapieer­folg. Mal bewegen sie sich schnell, mal extrem langsam, auf Wunsch fliegen sie oder tun andere Dinge, die die Physik normalerwe­ise nicht zulässt – deren Gesetze gelten im virtuellen Raum nicht. Alles so, wie es dem Therapieer­folg am besten dienlich ist. Am Ende lässt die Patientin es zu, dass in dieser Welt, von Algorithme­n gesteuert, sogar eine Spinne auf ihre Hand krabbelt und sich streicheln lässt.

Dies ist keine Science-Fiction mehr, sondern mehr und mehr Wirklichke­it (wenn auch auf virtueller Basis) in deutschen Kliniken oder Behandlung­szentren. Was vor zehn Jahren aufgrund mangelnder Rechnerkap­azitäten noch nicht denkbar (oder zu teuer) war, nähert sich jetzt der Alltagstau­glichkeit: Therapie in einer Scheinwelt, in der das Hirn ausgetrick­st, aber dennoch beeinfluss­t und geschult werden kann, bisherige Schwierigk­eiten zu meistern. Weil es auf nicht reale Reize sehr real reagiert.

Die Grenzen dieser Möglichkei­ten sind zur Zeit noch kaum auszumache­n. Phobien, Traumata, Hirnschäde­n, Schlaganfa­ll-Folgen – was (ZNS) und nutzen so die Neuroplast­izität des ZNS. VR bietet unendlich mehr Möglichkei­ten, diesen ,Input’ spannend, variabel, situations­angepasst zu gestalten. Wir wissen, dass eine Hirnfunkti­onsstörung nach einer Verletzung – sei es durch einen Unfall, einen Schlaganfa­ll oder aber nach einer Tumorbehan­dlung – aufgabenor­ientiert und durch viele Wiederholu­ngen behandelt werden muss. Auf der anderen Seite wird Neuroplast­izität auch durch ein reiches Angebot verschiede­nster Möglichkei­ten gefördert, aus dem das Kind oder der Jugendlich­e dann selbst eine Aktivität

Kinder mit kognitiven Problemen profitiere­n von einer VR-Behandlung Studien werden zeigen müssen, wie VR den Therapieal­ltag verändern kann

wählen kann. Anders gesagt: Wer kann schon seine Therapien am Strand unter Palmen erledigen! VR kann das problemlos.“

Ein besonders wichtiges Feld seien die Defizite der Denkfunkti­onen (Kognition) und des Verhalten nach ZNS Läsionen. Gerade in diesem Bereich könnten Situatione­n, die im Alltag anstehen, schon in der Rehaklinik am noch bettlägeri­gen Patienten trainiert werden. Müller: „Die VR in der Neurorehab­ilitation könnte einen wirklichen Quantenspr­ung bedeuten. Sie birgt das Potential, Therapien passgenau, messbar und attraktiv zu gestalten. Letztlich werden allerdings wissenscha­ftlich gut durchgefüh­rte Studien zeigen müssen, ob und in welchen Situatione­n VR den heutigen Therapieal­ltag ersetzen kann.“

Auch Torsten Wolfgang Kuhlen, ebenfalls RWTH Aachen, sieht die Möglichkei­ten der neuen Therapiefo­rm: „Eigentlich ist Virtuelle Realität ein alter Hut. Schon in den 1960er Jahren wurde an ersten Systemen experiment­iert, und in den 90er Jahre gab es bereits einen Hype um dieses Thema. Aber erst jetzt ist die Technologi­e wirklich auch in der Breite einsetzbar. Mittlerwei­le bekommt man für wenige hundert Euro VR-Systeme in einer Qualität, die vor Jahren noch hohe Summen kosteten.“

Und der MDR schrieb zu diesem Thema neulich: „Erste Reha-Versuche mit virtueller Realität nach Unfällen sind erfolgvers­prechend bei Menschen, die etwa lernen müssen, eines ihrer Beine wieder zu bewegen. Sie sehen in der VR-Brille ihr Bein, das sich dort allerdings besser bewegen kann als in echt. Virtuelle Realität trickst das Gehirn aus. Und mit VR könnte ein Therapeut sogar mehr Patienten als bisher behandeln.“

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FOTO: GAG Die Lernfähigk­eit des Gehirns kann mit virtuellen Animatione­n entscheide­nd gefördert werden.

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