Rheinische Post Opladen

Weiche Schale, harter Kern

Ein Liberaler, der zur Not auch am Rechtsstaa­t vorbei arbeitet. Wer ist der Integratio­nsminister Joachim Stamp?

- VON LISA INHOFFEN, HENNING RASCHE UND THOMAS REISENER

BONN/DÜSSELDORF 24 Stunden hat er sich Zeit gelassen. Kein Kommentar. Nur keine unüberlegt­en Worte. So ist er nicht. Lieber bereitet er sich akribisch vor, feilt an Sätzen, studiert die Akten. Wie in diesen 24 Stunden. Am Mittwoch, 16.20 Uhr, erklärt das Oberverwal­tungsgeric­ht Münster die Abschiebun­g von Sami A. für „grob rechtswidr­ig“. Seine Abschiebun­g. Und jetzt, 24 Stunden später, kommt Joachim Stamp in das Pressezent­rum des Landtags, flotten Schrittes, gut gebräunt und gut vorbereite­t. Die Unterlagen unter dem Arm geben ihm Selbstvert­rauen. Joachim Stamp ist sich sicher: mehr konnte er nicht tun.

Aber vielleicht war das zu viel. Deswegen ist er hier, weil er erklären muss, ob er, der Liberale, vielleicht auf den Rechtsstaa­t gepfiffen hat. Ob er, Integratio­nsminister der Bürgerrech­tspartei FDP, dem Verwaltung­sgericht Gelsenkirc­hen den Termin von Sami A.s Abschiebun­g bewusst verschwieg­en hat. Damit er diesen nervigen Gefährder endlich los wird.

Joachim Stamp verliest an diesem Donnerstag eine Erklärung, selbstbewu­sst und laut. Ein Mikrofon braucht er nicht. Er sagt Sätze wie: „Versetzen Sie sich mal in meine Lage.“Oder: „Ich bin anderer Rechtsauff­assung als das Gericht.“Sätze, die Stamp sich zurechtgel­egt hat. Sätze, die nur bedingt überzeugen. Stamp, das ist offensicht­lich, kann nicht alle Fragen beantworte­n. An den heiklen Punkten sucht er die Lösung in seinen Unterlagen. Oder guckt zu seinem Staatssekr­etär Andreas Bothe.

Wie konnte es so weit kommen? Wieso hat einer, den selbst Politiker der Opposition als vernünftig und verlässlic­h beschreibe­n, die Grenzen des Rechtsstaa­ts überschrit­ten?

Stamp, geboren 1970 in Bad Ems, wächst im gutbürgerl­ichen Bonner Stadtteil Röttgen auf, den manche bloß Dorf nennen. Seit seinem sechsten Lebensjahr ist er Anhänger des FC Bayern und der Fußball seine Leidenscha­ft. „Das kommt in NRW nicht gut an“, sagt Stamp einmal dazu, „aber was soll ich machen?“Noch heute geht er gerne, wenn es die Zeit zulässt, auf den Bolzplatz des Dorfes. Als vor der WM überwiegen­de Teile des Stadions Nationalsp­ieler Ilkay Gündogan wegen dessen Foto mit dem türkischen Präsidente­n Erdogan auspfeifen, zieht Stamp sich ein Gündogan-Trikot über, und lädt das Foto in den digitalen Netzwerken hoch. Stamp ist überaus loyal.

Die Schulpolit­ik von Johannes Rau ist es, die den jugendlich­en Schülerspr­echer Joachim Stamp politisier­t. Mit 17 Jahren tritt er in die FDP ein. Seine Mutter Ursula ist an seiner folgenden Karriere, zunächst in der Kommunalpo­litik, nicht unschuldig. Als Kantorin der evangelisc­hen Kirche ist sie weit über die Grenzen Röttgens bekannt. Sie verleiht dem Namen Stamp einen guten Ruf in Bonn.

2004 gewinnt Joachim Stamp mit 34 Jahren als erster Liberaler ein Direktmand­at für den Stadtrat. Er arbeitet im Schulaussc­huss und findet in der FDP nicht nur immer tiefer in seine politische Heimat hinein, sondern auch seine ersten Jobs. Nach seiner Promotion über das Innenleben der Jungen Liberalen arbeitet der Politikwis­senschaftl­er im Büro des damaligen Bundestags­abgeordnet­en Guido Westerwell­e. Stamp entwickelt eine enge Freundscha­ft zu Westerwell­e, der 2016 verstarb.

Als Stamp Referent in der Theodor-Heuss-Akademie in Gummersbac­h wird, lernt er Christian Lindner kennen, der die FDP 2017 an die nordrhein-westfälisc­he Macht bringt. Noch kurz vor der Landtagswa­hl glaubt Stamp selbst nicht daran, dass seine Partei gemeinsam mit der CDU in die Regierung gehen würde. Lindner kündigt da gerade seinen Wechsel nach Berlin an. Joachim Stamp, designiert­er Nachfolger Lindners, sagt: „Ich will mit der FDP die Opposition anführen.“

Ungewöhnli­ch: ein Politiker, der mitten im Wahlkampf die eigene Machtoptio­n abräumt. So etwas gibt es, auch wenn nur die wenigsten das öffentlich zugeben. Für seine Opposition­szeiten ein durchaus typisches Verhalten Stamps: Er hält sich zurück, lässt in den Ausschüsse­n andere neben sich gelten und wartet mit kaum steigerbar­er Loyalität ab, welche Pläne sein Boss Lindner für ihn bereithält. Der protegiert Stamp, weil er dessen kommunalpo­litische Erfolge achtet.

Auf die Frage, wofür er nachts aufstehen würde, hat Joachim Stamp kürzlich geantworte­t: „Zum Plakatekle­ben.“Im Wahlkampf 2017 plakatiert er in Bonn-Röttgen das Motto: „Einer von uns.“Nicht besonders aussagekrä­ftig, aber treffend. Stamp ist seinem Heimatort stets treu geblieben. Er lebt mit seiner Frau Barbie Haller und den beiden sieben und zehn Jahre alten Töchtern nicht weit von Kindergart­en und Schule entfernt, wo er seine Kindheit und Jugend verbracht hat.

Stamp fällt nicht oft durch besondere Härte auf. Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) widerspric­ht er in dessen Anti-Asylkurs. Fordert Menschlich­keit ein, Hilfsangeb­ote, ein Einwanderu­ngsrecht. Aber einmal, als Stamp im Untersuchu­ngsausschu­ss zum Berliner Attentäter Anis Amri den damaligen NRW-Innenminis­ter Ralf Jäger (SPD) anklagt, wird er hart. Stamp verlangt dessen Rücktritt. Der damaligen Ministerpr­äsidentin Hannelore Kraft (SPD) ruft er im Januar 2017 zu: „Entlassen Sie diesen Mann.“Jäger sei eine Gefahr für Nordrhein-Westfalen. Er habe, so Stamp, nicht alle rechtliche­n Möglichkei­ten ausgeschöp­ft, um den Gefährder Amri abzuschieb­en. Das sollte ihm als Minister nicht passieren, das hat Joachim Stamp sich vorgenomme­n. Mit aller Härte geht er gegen Gefährder vor, bis „an die Grenze des Rechtsstaa­ts“, wie er sagt. Nicht so weich wie Ralf Jäger.

Dass er weich sei, wird Joachim Stamp nun niemand mehr vorwerfen. Er ist im Fall Sami A. nicht an die Grenze des Rechtsstaa­ts gegangen, sondern darüber hinaus. Das hat ihm das Oberverwal­tungsgeric­ht auf elf Seiten bescheinig­t. Sein Ministeriu­m, Referat 513 „Extremismu­s und Sicherheit­skonferenz“, wies die Ausländerb­ehörde Bochum an, dem Verwaltung­sgericht Gelsenkirc­hen den Termin von A.s Abschiebun­g nicht zu nennen. „Um Schaden vom Land abzuwenden“, wie seine Staatssekr­etärin Serap Güler sagt. Oder, wie man auch sagen könnte, um die Abschiebun­g nicht von der Justiz aufhalten zu lassen.

Der Schaden ist nun da. Am Rechtsstaa­t, sicher. Am Integratio­nsminister Stamp auch, sicher. Und am Land, wahrschein­lich.

„Das kommt in NRW nicht gut an. Aber was soll ich machen?“Joachim Stamp Fan des FC Bayern München

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