Rheinische Post Opladen

Britische Gelehrte stellen sich gegen den Brexit

Die große Mehrheit der Wissenscha­ftler lehnt den EU-Austritt ab – weil er die Arbeit der Forschungs­gemeinscha­ften erschweren wird.

- VON JOCHEN WITTMANN

LONDON Im Februar hatten zwei Wissenscha­ftler von der Universitä­t Cambridge die Nase voll. Sie waren empört über das gängige Vorurteil, dass „Brexiteers“– so werden die Briten genannt, die für den Austritt aus der Europäisch­en Union eintreten – einen eher niedrigen Intelligen­zquotiente­n aufweisen. Der Wirtschaft­swissensch­aftler Graham Gudgin und der Historiker Robert Tombs gründeten die Online-Plattform „Briefing for Brexit“.

Auf der Website sollen Akademiker über die Vorteile des Austritts publiziere­n und damit demonstrie­ren, dass auch schlaue Menschen für eine Abkehr von der EU sind. Das Projekt wurde in der „Sunday Times“groß angekündig­t, 38 namhafte Persönlich­keiten und Gelehrte gaben ihren Namen dafür her, ein „Pantheon von super-smarten Unterstütz­ern“, jubelte das Blatt.

Eine Woche später kam die Retourkuts­che, ebenfalls in der „Sunday Times“. „Sie haben berichtet“, hieß es in einem Leserbrief, „dass ,nahezu 40‘ Akademiker sich in der Unterstütz­ung für den Brexit zusammenge­schlossen haben. Wir möchten Sie wissen lassen, dass es viele mehr gibt, die der entgegenge­setzten Ansicht sind.“Unterschri­eben war der Brief von 1406 Gelehrten, darunter eine Reihe von Nobelpreis­trägern.

Die Episode illustrier­t, wie das Kräfteverh­ältnis an britischen Universitä­ten wirklich aussieht. Die überwältig­ende Mehrheit von Hochschull­ehrern lehnt den Brexit ab. Ein Jahr vor dem Referendum führte die „Campaign for Science and Engineerin­g“eine Umfrage unter Wissenscha­ftlern durch: Über 90 Prozent waren der Ansicht, dass die Mitgliedsc­haft in der EU einen bedeutende­n Nutzen für die britische Forschung darstellt.

Zwei Jahre nach dem Referendum wird britischen Gelehrten immer deutlicher, wie hoch die Kosten eines Brexit für Großbritan­nien werden können, vor allem für die Universitä­ten. „Ich bin sehr besorgt“, sagte die renommiert­e Biologin Anne Glover, „was Wissenscha­ft und Forschung widerfahre­n wird, wenn wir mit einem chaotische­n Brexit ohne Deal aussteigen.“

In Sachen Wissenscha­ft hat Großbritan­nien aus der EU stets einen Profit geschlagen, denn es kommen mehr Fördergeld­er zurück, als London nach Brüssel überweist. Der Präsident der „Royal Society“und Nobelpreis­träger Venki Ramakrishn­an schätzt, dass die EU-Zuwendunge­n rund ein Zehntel der jährlichen Ausgaben für die Forschung ausmachen. „Ohne Deal“, so der Biologe, „könnten wir rund eine Milliarde Pfund an EU-Forschungs­finanzieru­ng verlieren.“

Britische Universitä­ten zählen nach deutschen Hochschule­n zu den größten Nutznießer­n von „Horizont 2020“, dem wichtigste­n wissenscha­ftlichen Förderprog­ramm der EU, und haben seit Beginn des Programms 2013 rund 15 Prozent der europäisch­en Fördergeld­er erhalten. Die britische Regierung versuchte, die Sorgen britischer Akademiker zu zerstreuen mit der Zusicherun­g, dass man auch nach dem Austritt die Finanzieru­ng sämtlicher Horizont-2020-Projekte garantiere­n werde. Doch wie es um die Teilnahme am Anschlussp­rojekt „Horizont Europe“aussehen wird, ist zur Zeit völlig offen.

Doch fehlende Fördergeld­er sind nicht die einzige Sorge britischer Wissenscha­ftler. Der größte Nutzen der Horizont-Programme ist nicht notwendige­rweise die Finanzieru­ng von, sondern die Zusammenar­beit in der Forschung. Auch Nobelpreis­träger Sir Fraser Stoddart sieht in der möglichen Isolierung des Königreich­s die größte Gefahr: „Wissenscha­ft ist eine Familie“, meint der Chemiker. „Am allerwicht­igsten ist, dass wir 15 verschiede­ne Nationalit­äten in einer großen Forschungs­gruppe beisammen haben – so betreiben wir Wissenscha­ft, wir machen es auf einer globalen Ebene.“

Die Regierung hat bisher noch keine konkreten Vorschläge gemacht, wie die Personenfr­eizügigkei­t nach dem Brexit gehandhabt werden soll – sehr zum Missfallen des Wissenscha­ftsausschu­sses des Parlaments. Dessen Vorsitzend­er, der Unterhaus-Abgeordnet­e Norman Lamb, sieht „die wirklich reale Gefahr, dass Wissenscha­ft und Forschung zum Opfer des Brexit und des Endes der Freizügigk­eit werden“. Sein Ausschuss hat jetzt Pläne ausgearbei­tet, nachdem EU-Wissenscha­ftler ein unkomplizi­ertes Fünfjahres­visa erhalten sollen.

Auch hier ist völlig offen, ob die Regierung Norman Lambs Anregungen aufgreifen wird. Ebenso unklar ist, wie es um das Aufenthalt­srecht für EU-Bürger steht, die in Großbritan­nien wohnen. Für die wissenscha­ftlichen EU-Mitarbeite­r an britischen Universitä­ten ist das eine schwierige Situation. Die Gewerkscha­ft „Prospect“, die mehr als 140.000 Wissenscha­ftler, Ingenieure und andere Spezialist­en vertritt, hat eine Befragung durchgefüh­rt, die ergab, dass fast 70 Prozent aller EU-Wissenscha­ftler im Land an eine Ausreise nach dem Brexit denken.

„Das ist sicherlich ein signifikan­ter Prozentsat­z“, sagte Gewerkscha­ftssekretä­rin Sue Ferns, „aber was uns besonders beunruhigt ist, dass dieser Prozentsat­z seit dem Referendum beständig nach oben gegangen ist – was zeigt, dass alle Statements der Regierung nicht die Unsicherhe­it klären konnten, die unsere Mitglieder fühlen.“Sie hat die Unterstütz­ung von Nobelpreis­träger Sir Paul Nurse, der den Leserbrief in der „Sunday Times“unterzeich­net hat. „Wir führen Barrieren ein, wenn wir hochqualif­izierte Leute anziehen wollen, weil das jetzige Visa-System völlig ungeeignet ist“, ärgerte sich der Genetiker. „Der Rest der wissenscha­ftlichen Welt denkt, wir kapseln uns ein. Das ganze Brexit-Geschäft hat die intellektu­elle Jugend im Land abgestoßen, und ich denke, dass man das völlig unterbewer­tet hat.“

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FOTO: DPA „Ist es das wert?“: Ein Mann demonstrie­rt in London gegen den britischen Austritt aus der EU.

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