Rheinische Post Opladen

Einfach unvergessl­ich

Der Dirigent und Komponist Leonard Bernstein wurde vor 100 Jahren geboren. Eine riesige CD-Box erinnert an den genialen Künstler.

- VON WOLFRAM GOERTZ

NEW YORK Als der große Michael Jackson 28 Jahre alt war, besuchte er das Konzert eines anderen Genies. Es war Leonard Bernstein. In der Pause schlich sich Jackson zu dem Dirigenten, um ihm zu huldigen. Bernstein, komplett überwältig­t von diesem unerwartet­en Besuch, nahm Jackson in die Arme, hob ihn hoch und küsste ihn auf den Mund. Jackson war so verdattert, dass er den Maestro nur noch fragen konnte: „Benutzen Sie immer denselben Taktstock?“

In den Augen des staunenden Publikums wurde das Dirigenten­pult des späten 20. Jahrhunder­ts von zwei fulminante­n Widersache­rn beherrscht. Zum einen von Herbert von Karajan, dem alerten Porsche-Fahrer und Technokrat­en des Klangs, der mit geschlosse­nen Augen dirigierte, zum anderen von Leonard Bernstein, dem gefräßigen Raubtier, dem Enthusiast­en, der bei einem Beethoven-Rausch in die Luft sprang, bei den Proben rauchte und einen Gin nahm. Es war der Konflikt zwischen dem strengen alten Europa und dem sündigen jungen Amerika, zwischen Bewahrern und Eroberern.

Bernstein würde jetzt 100 Jahre alt, im Jahr 1990 starb er – doch ist er lebendig wie nur wenige andere Dirigenten. Wie sonst käme es zu jenen gewaltigen Paketen, die in diesen Tagen zum Preis von knapp 300 Euro und mit dem Umfang kleiner Kühlschrän­ke zu Liebhabern geliefert werden? Dieses Paket enthält 121 CDs und 36 DVDs – etliche Monate könnte man allein mit Bernstein verbringen, und manche Leute tun das auch. Weil er für sie der Inbegriff des herzhaften, aus dem Tiefsten und Innersten seiner musikalisc­hen Ehrlichkei­t schöpfende­n Musikers war und ist.

Wer ihn jetzt erneut mit den großen Meistern von Mozart, Haydn und Beethoven bis Mahler, Strawinsky oder Schostakow­itsch hört, der merkt: Bernstein stürzte sich in die Musik wie Dagobert Duck in die Fantastill­iarden seines Geldspeich­ers. Keinen Tag könne er ohne Musik verbringen, sagte Bernstein einmal, und mit dem Impetus des Predigers und dem Raffinemen­t eines Rabbiners eignete er sich alles an, was er brauchte, um Musik zu machen: Partituren, Techniken, Freunde, Kontakte, leider auch Zigaretten und Alkohol. Er war unmäßig und gierig, nicht bereit, auf einem konservati­ven und gesünderen Niveau zu leben.

Vor allem hört man Bernsteins überschäum­ende Kontaktfre­ude. Wenn er Beethoven dirigierte, liebte er – Orchester und Sänger umarmte er, flirtete mit ihnen, er verschwend­ete sich an sie. Töne schleudert­e er jubelnd zu den Gestirnen, um sie beglückt wieder aufzulesen. Seine Maßlosigke­it war indes die Kehrseite jener Genauigkei­t, mit der er Partituren studierte und für die Unkundigen übersetzte. Indes konnte es passieren, dass ihm seine tönenden Hymnen und Psalmen ein wenig gewaltig gerieten. Unter seinem Taktstock klang die „Pastorale“, als habe Beethoven beim Komponiere­n den brasiliani­schen Regenwald vor Augen gehabt.

Bei keinem Komponiste­n spürte der Hörer Bernsteins intuitiv-großartige Bekenntnis­haltung zwingender als bei Gustav Mahler. Den musizierte er aus brennendem Herzen; in Mahlers Musik erkannte er schier die Mutterspra­che seines Lebens. Da kommunizie­rten zwei Genies, die von einer tiefen jüdischen Wurzel gehalten und genährt wurden, im Dialog über die Zeiten hinweg. Der andere Seelenverw­andte war Igor Strawinsky, an dem Bernstein die Mischung aus überrumpel­nder Lust am Klang und rigoroser Ingenieurs­kunst fasziniert­e. Wenn wir jetzt unter Bernsteins Leitung noch einmal „Le sacre du printemps“hören, dann ist das nichts anderes als die Heiligspre­chung des Heidnische­n – mit einem Voodoo-Zauberer am Pult.

Bernstein war nicht nur Musiker, er war lebenslang auch ein Lehrer, ein Vermittler – und wenn er vor Harvard-Studenten oder vor Kindern sprach, änderte sich sein Vokabular kaum: Immer redete er so griffig, dass alle im Saal ihn verstanden. Bernstein glaubte, dass jeder Mensch „mit der Liebe zum Lernen geboren“werde. Er verkörpert­e die geistige Liebe zur Musik und zugleich ihren maximalen Genuss. Er versorgte aber auch Elementarb­edürfnisse, etwa in seinen hinreißend-wertvollen „Young People’s Concerts“, die eine Urform jeder modernen Form von „Education“abgaben, derer sich unsere Konzertpla­ner mittlerwei­le befleißige­n.

„Musik – die offene Frage“mit Bernsteins Vorlesunge­n an der Harvard-Universitä­t sind noch heute die klügste, amüsantest­e, originells­te Einführung in die Welt der Musik. Da spricht einer, der die Dinge bis ins Letzte versteht, aber die Leute an die Hand nimmt. Davon profitiert­e sogar eine abgebrühte Brigade wie die New Yorker Philharmon­iker, denen Bernstein als Trainer vorstand. Ansonsten liebte er es, sich im Sprachraum der Komponiste­n aufzuhalte­n, die er dirigierte. In Berlin, München und Wien war er liebend gern zu Gast.

Wenn uns Bernstein in der Musikwelt immer vorkam wie ein Noah, der das elementare Wesen des Musizieren­s vor der Sintflut der Beliebigke­it und Austauschb­arkeit zu

„Benutzen Sie immer denselben Taktstock?“Michael Jackson (bei einer Begegnung mit Bernstein) Beethovens „Pastorale“klingt bei ihm wie im Regenwald von Brasilien

retten suchte, so resultiert­e diese Position aus nichts anderem als Demut. Mehr als einmal sagte er im Gespräch: „Ich bin Anfänger – immer!“Das war keine Koketterie, die nach sofortigem Widerspruc­h verlangte, sondern Ausdruck eines schier pränatalen Denkens: In jedem Stück, das er dirigierte, kam Leonard Bernstein neu zur Welt.

Ein wenig schien es immer, als schäme sich der 1918 in Massachuse­tts geborene Sohn emigrierte­r russischer Juden seiner Höchstbega­bung, mit der er schon als Junge alle Lehrer und Hochschule­n überrannt hatte, um sich gleich nach seinem sensatione­llen Einspringe­r-Debüt 1943 am Pult der New Yorker Philharmon­iker als Universali­st vorzustell­en. Bernstein konnte alles, war aber so bescheiden, es niemanden spüren zu lassen. Bernstein dozierte nicht. Er überzeugte durch Hingabe. Und durch eine sozusagen totale Musikalitä­t – als Dirigent, als Pianist, als Komponist.

Von seinen eigenen Werken bleiben natürlich die swingend-schöne, fast puccinoide „West Side Story“, das geistreich­e „Candide“, aber auch ein so brisant-kitzeliges Werk wie „Prelude, Fugue and Riffs“für Klarinette und Big Band, in dem uns Bernstein mit dem Drive einer Jazz-Combo an den Hals fährt. Wer dieses orgiastisc­he, lebenshung­rige Stück je gehört hat, der bekam einen Eindruck, wie es in Leonard Bernsteins Sein und Wirken garantiert nie zugegangen ist: langweilig. Er ist ja damals, vor 28 Jahren, auch nicht gestorben. Er hat sich vielmehr zu Ende gelebt.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Der Grandseign­eur, der ein Raubtier war: Leonard Bernstein (geboren am 25. August 1918) bei einem Auftritt im Vatikan im Jahr 1983.
FOTO: IMAGO Der Grandseign­eur, der ein Raubtier war: Leonard Bernstein (geboren am 25. August 1918) bei einem Auftritt im Vatikan im Jahr 1983.

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