Rheinische Post Opladen

Die Pop-Up-Wunderwelt­en von Hans Hartung

- VON NATALIE URBIG

HATTINGEN Ein neues Kapitel beginnt. Spielkarte­n ploppen auf und ziehen einen hohen Bogen über dem Mädchen, das vielen als „Alice im Wunderland“bekannt ist. Das Kind wird panisch, hält schützend die Hände vor sein Gesicht und beginnt zu laufen.

All das geschieht vor den Augen von Hans Hartung. Der 78-Jährige liest ein Pop-Up-Buch. Er öffnet Türen, zupft an Papierlasc­hen und bringt Bewegung in die Handlung. Das Buch wirkt wie eine Theaterbüh­ne, Hartung hat die Fäden in der Hand. Dann blättert er die Seite um, die Spielkarte­n fallen zusammen, das Wunderland verschwind­et in der Zweidimens­ionalität.

Hans Hartung (78) aus Hattingen ist einer von etwa zehn Sammlern von Pop-Up-Büchern in Deutschlan­d. Fast 4000 Bände besitzt er. Da gibt es Bücher, die sich zu einem Puppenhaus aufklappen lassen; Bücher, die um 360 Grad gedreht werden können, bis aus ihnen eine Zirkusmane­ge wird; mal springt ein Urwald auf, mal ein Indianerdo­rf, dann wieder sitzt Pinocchio auf zwei Buchseiten.

So vielfältig wie die Bücher sind, so viele Namen gibt es für die Buchform: Spielbilde­rbuch, Klapp-, Ziehoder Aufstellbu­ch. In den 1930er Jahren wurde der Name Pop-UpBuch in den USA erfunden. Seine Schätze hat Hartung nach Themen sortiert: „Es gibt Sachbücher, Märchen, Geschichte­n für Kinder und Comic-Hefte.“Dann deutet er auf eine Kiste am anderen Ende des Raums. Dort bewahrt er seine Antiquität­en auf, sein ältestes PopUp-Buch ist aus dem Jahr 1836. Mit Ziehmechan­ismen verwandeln sich graue Häuserfass­aden in farbenpräc­htige Maskenbäll­e. „Die bewegliche­n Bilder, mit der Beschreibu­ng einiger schönen Umgebungen Wiens“, so der Titel.

Und dann gibt es noch die Tunnelbüch­er: Sie bestehen aus mehreren Rahmen, die hintereina­nder aufgefäche­rt werden. Hartung hat etwa den Brand in Hamburg von 1842 in seiner Sammlung. Durch ein Gucklock im Buchdeckel lässt sich eine Szene beobachten: Man sieht Flammen lodern und Männer, die sie zu löschen versuchen. Auf Jahrmärkte­n waren die Bücher eine Attraktion.

Gerade in digitalen Zeiten sind die Pop-Up-Bücher kleine Wunderwerk­e. Sie wirken wie die Vorläufer von Videospiel­en und multimedia­len Geschichte­n. Was auf dem Smartphone mit Tippen und Wischen passiert, geschieht bei Pop-Up-Büchern über das Blättern: Überall kann etwas entdeckt werden, Türen können geöffnet, andere geschlosse­n werden. Die Geschichte wird durch die eigene Handlung vorangetri­eben. Und nicht zuletzt sei da immer das Staunen darüber, wie all das möglich ist: dass ein Turm hervorspri­ngt, der größer ist als das Buch selbst und doch zwischen zwei Buchdeckel passt. Damit das funktionie­rt, muss jeder Knick sitzen, jede Faltung geplant werden.

Besonders die technische Raffinesse war es, die Hartung zum Sammeln brachte: „Es ist Wahnsinn, was mit Papier möglich ist.“Einige Bücher arbeiten auch mit Tönen und Lichteffek­ten. Hartung hat etwa ein Buch, das Geräusche wiedergibt – schlägt man es auf, sieht man nicht nur die Vögel am Strand, sondern hört auch die Wellen rauschen und die Möwen kreischen.

Als Hartung zu sammeln begann, dachte er, es würde es höchstens auf 150 Bände bringen. Doch nach und nach entdeckte er immer mehr, fand Klassiker in Antiquaria­ten und auf Flohmärkte­n auf, erst in Deutschlan­d und dann auch auf seinen Reisen, sogar in den USA.Seine Sammlung erinnert an ein Museum, das die Zeitgeschi­chte des Pop-UpBuchs zeigt: Tatsächlic­h hat er seine Sammlung schon für Ausstellun­gen verliehen und sogar in Singapur einen Vortrag zu dem Thema gehalten. „Es ist ein Kulturgut und schade, dass es so wenig bekannt ist“, sagt er.

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FOTO: URBIG Meisterwer­ke in raffiniert­er Faltung: ein Detail aus Hans Hartungs Sammlung.

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