Zwischen Klassik und Kulinarik
Die drei großen sommerlichen Musikfestivals in Deutschland – im Rheingau, in Schleswig-Holstein und MecklenburgVorpommern – locken ihr Publikum zunehmend mit spezifischen, oft sehr originellen Konzertformaten.
Ein halbes Dutzend verschiedener Orgeln, intoniert mit Werken von Buxtehude bis Vierne binnen 40 Minuten: Andächtig lauschen die rund 100 Besucher den Königinnen der Instrumente im Orgelmuseum Malchow. Und während sich hernach mancher noch im benachbarten einstigen Kloster von Goldschmied Michael Voss durch sein Atelier führen lässt – „hier hat früher immer die Domina des Damenstifts gewohnt“–, schlendern die übrigen zwischen Rosengehölzen hinab zur Anlegestelle, um kurz darauf zur Vier-Seen-Schifffahrt rund um das kleine Inselstädtchen in der Mecklenburgischen Seenplatte abzulegen.
Auftakt zu einer „Landpartie“der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern (FMV), die am Abend mit einem Klavierrecital des jungen Brendel-Schülers Filippo Gorini in der schlichten Fachwerkkirche des Dörfchens Nossentin enden wird. Ein Konzert, eingebettet in das Gesamterlebnis der idyllischen Region: Die „Landpartien“sind eines von rund einem Dutzend neuer Konzertformate des drittgrößten deutschen Klassik-Reigens. „Als Festival können wir Anstöße geben, wie man Musik im 21. Jahrhundert veranstalten sollte“, sagt FMV-Intendant Markus Fein. „Das ist schon immer eine Aufgabe von Festivals gewesen und ein Pfund, mit dem sie wuchern können.“So wie mit der Reihe „Stars im Dorf“, für die Schlagzeuger Alexej Gerassimez schon Monate vor seinem Konzert in den 100-Seelen-Ort Steinfurth im tiefsten Vorpommern gereist ist, mit Alt und Jung dort diskutiert, gegrillt und Fußball gespielt hat. „Es ist Teil unserer DNA, mit Stars in ländliche Räume zu gehen – hier werden Musiker nun sogar Teil des Dorfes, bringen sich ein; und umgekehrt sind die Menschen dort Gastgeber“, sagt Fein. Mit dem Ergebnis, dass der Percussion-Star für die Dorfbewohner nicht nur zu „unserem Alexej“geworden sei, sondern beim abschließenden Auftritt im Kulturhaus auch „viele Besucher sitzen, die erstmals in ihrem Leben im Konzert sind“.
Ein Erfolg, den auch Christian Kuhnt allsommerlich bei den „Musikfesten auf dem Lande“beim benachbarten Schleswig-Holstein Musik Festival (SHMF) verzeichnen kann. „Mit diesen moderierten Konzerten an ungewöhnlichen Orten samt kulinarischem Angebot haben wir seit Ende der 80er Jahre viel neues Publikum erreicht“, so der SHMF-Intendant.
Klassik und Kulinarik jenseits der heute üblichen trockenen Pausen-Brezeln hat die Menschen eben schon seit dem Mittelalter zu locken vermocht – und ist bis heute eine Kombination, die alljährlich auch für ausverkaufte Konzerte beim Rheingau Musik Festival (RMF) sorgt: Sei es bei der 800 Meter langen Steinberger Tafelrunde, wo sich 1350 Besucher bei Riesling, Spundekäs’ und Blasmusik vergnügen oder auch bei den „Fahrenden Musikern in Weingütern“, die anknüpfend an die Spielleute der Renaissance in halbstündigen Blöcken Saiten- und Gläserklang fröhlich wechseln lassen. Was natürlich schon „sehr spezifische Konzertformate“seien, wie RMF-Intendant Michael Herrmann feststellt: „Auf den Konzertalltag lassen die sich nicht übertragen.“
Anders die Idee „2x Hören“: Einst von Fein bei den Sommerlichen Musiktagen Hitzacker kreiert, haben die beiden norddeutschen Festivals den Gedanken der vertiefenden Rezeption weiter entwickelt. Während auf Schloss Ulrichshusen Schuberts „Arpeggione“-Sonate einmal für Hammerflügel und einmal für Klavier und Viola erklang, nimmt in Rendsburg das SHMF-Orchester für sein „Zoom“-Format das Publikum für Dvoraks Neunte zum Zuhören in seine Reihen auf – um hernach die Sinfonie nochmals in gewohnter Sitzordnung zu spielen. „Wir haben hier die Ideen von ‚2x Hören‘ und ‚Mittendrin‘ kombiniert – und auf einmal erlebt der Zuhörer die Musik von innen“, erklärt Kuhnt. „Ein magisches Erlebnis für das Publikum, denn sie hören das Stück vollkommen anders.“
Ein Konzept, das inzwischen auch über die Festivals hinaus Anklang findet – wie im Konzerthaus Berlin: Dort hat Intendant Sebastian Nordmann seit 2009 durch solche Ideen jenseits des klassischen Abonnement-Konzertes die Besucherzahl um 40 Prozent auf zuletzt 180.000 gesteigert. Hinsichtlich der Formate gäbe es dabei eine „neue Stufe: In den 80er- und 90er-Jahren standen die ungewöhnlichen Spielstätten im Mittelpunkt, es folgte das Thema Education, dann ging es um die Mischung von Profis und Laien – und nun gibt es das individuelle Experiment: Gerade junge Künstler müssen ihren Weg finden, sich ein eigenes Profil aufzubauen“. Sich selbst und seine Intendantenkollegen sieht der 47-Jährige dabei durchaus in der Pflicht: „Wir müssen Künstlern frühzeitig das Vertrauen geben ‚Tobe dich mal bei uns aus‘ – viele haben tolle Ideen und denen muss man langfristig einen Raum geben, um dann kurzfristig das Konzert zu planen.“
So wie bei den Festspielen FMV das 360°-Festival, das in diesem Sommer dem Cello gewidmet war und neben Konzerten Live-Eindrücke in eine Cellobauwerkstatt bot, ein Gespräch mit Daniel Müller-Schott über die russische Cello-Schule und einen Hörvergleich verschiedener Instrumente. Oder Gerassimez im Rahmen der Reihe „Unerhörte Orte“in eine Eisengießerei im vorpommerschen Torgelow führte, wo aus Werksgeräuschen eine eigene Suite entstand. „Wir möchten diese Orte zum Sprechen bringen und uns Geschichten erzählen lassen“, erklärt Fein seinen dramaturgischen Ansatz. „Denn wir wollen kein austauschbares, sondern ein spezifisches Festival für das Land sein.“
Ideen, die auch im normalen Konzertalltag „viel mehr zum Standard werden müssten“, findet Sebastian Manz. Zwei Tage lang hat der Klarinettist mit dem Doric String Quartet ein Seminar aus Konzerten und Vorträgen zum „Mythos Spätwerk“im Schloss Schwiessel veranstaltet – und ist begeistert. „Die Zeiten des elitären Künstlerdenkens ‚Bist du ein Star, mach´ dich rar, sind vorbei – heute geht es um die unmittelbare Verbindung mit dem Publikum.“Was für Fein nicht heißt, das „klassische Konzert endgültig zu verabschieden – das fände ich traurig und falsch“. Und sein Kollege Herrmann mahnt zur Vorsicht, „nicht jedem Zeitgeist nachzulaufen: Die Leute wollen ein klassisches Konzertformat haben wie im Wiesbadener Kurhaus“. Aber auch das lasse sich aufbrechen, findet Kuhnt: „Warum soll ein Konzert nicht mal nur eine Stunde dauern? So lang sind die Blöcke bei unseren Musikfesten – und dort wird viel weniger gehustet…“
Ob nun kürzere Längen, Moderationen oder Brückenschläge zum Auftrittsort: Entscheidend sei, wie es gelingen könne, die Musik herauszuheben, sagt Fein. „Am Ende muss das Konzertformat verschwinden und das Werk zum Menschen sprechen.“ Von den drei genannten Festivals läuft noch jenes in Mecklenburg-Vorpommern, Infos und Karten: 0385/5918585: