In New Bern, North Carolina, leiden die Menschen noch immer unter den Folgen von Hurrikan „Florence“. Vor allem die Armen wissen, dass sie ihre Wohnungen eigentlich verlassen müssten. Denn der nächste Sturm kommt bestimmt.
NEW BERN Auf einer Landkarte in der Kirche markieren Stecknadelköpfe die Einsatzgebiete. Draußen auf dem Parkplatz stapeln sich Hilfsgüter: Babywindeln, Decken, Mineralwasser-Paletten. Ein Trupp aus Louisiana, gerade eingetroffen, lässt sich eine Aufgabe zuweisen, kräftige Männer, die sich knallgelbe T-Shirts übergestreift haben, auf denen steht, dass sie Hilfe, Heilung und Hoffnung bringen. Und Jim Pennington, der Pfarrer der Temple Baptist Church, gibt sich Mühe, in dem Gewusel den Überblick nicht zu verlieren.
Pennington ist inoffizieller Chef eines Krisenstabs. Nur dass die Fäden nicht im Rathaus oder in einer Kaserne zusammenlaufen, sondern in einer Baptistenkirche. Das hat zum einen praktische Gründe, denn kein anderes Gebäude in New Bern bietet so viel Platz wie die Temple Church mit ihren turnhallengroßen Sälen. Zum anderen kann kaum eine Behörde im amerikanischen Süden in so kurzer Zeit so viele Helfer mobilisieren, wie es die Kirche vermag. Allein am vergangenen Wochenende, dem ersten, an dem die tagelang überschwemmten Straßen nach New Bern passierbar waren, meldeten sich fast 600 Freiwillige.
„In solchen Momenten möchte ich auf eine Kiste steigen, mir ein Megafon schnappen und ‚Yay, America!‘ rufen“, schwärmt Pennington, dessen schlohweißes Haar in auffälligem Kontrast zu eher jungenhaften Gesichtszügen steht. „Es mag passieren, was will, in einer Krise halten wir zusammen.“Nachdem der Hurrikan „Florence“bei New Bern auf die Küste geprallt war, hat der Pastor viele Stunden in einem Kajak verbracht. Er paddelte durch überflutete Wohngebiete, im Tandem mit einem Nachbarn in einem Schlauchboot. Gemeinsam brachten sie ungefähr 30 Eingeschlossene in Sicherheit. Nach drei Tagen war der Reverend zurück in seiner Kirche, seitdem widmet er sich dem Krisenmanagement einer Stadt mit rund 30.000 Einwohnern.
In den Kopfsteinpflasterstraßen im Zentrum türmen sich Gipskartonberge. Weil das Wasser hüfthoch in den Läden stand, müssen feuchte Trennwände herausgerissen werden. „Make New Bern Great Again“, hat jemand in rot, blau und weiß, den amerikanischen Farben, auf eine Sperrholzplatte gesprüht. Zehn Autominuten vom historischen Altstadtambiente entfernt, mitten im Wald, lebt Bobby Garey. 71 Jahre alt, auf sich alleingestellt. Helfer unter Penningtons Kommando schwärmen aus, um auch bei ihm aufzuräumen. Eine gewaltige Kiefer ist auf Gareys Grundstück gestürzt, Stamm und Äste müssen in Teile zersägt werden, die handlich genug sind, damit man sie aufladen kann. Während Kevin Jennings und Andy Trossen dem Baumstamm mit Kettensägen zu Leibe rücken, ziehen ihre Begleiter Astsegmente von der Wiese. Jennings, ein Möbeltischler, hat erst seinen Nachbarn geholfen, dann hat er Pennington gefragt, wo er anpacken kann.
Es ist erst zwei Jahre her, dass sich der Hurrikan „Matthew“über dem Küstengebiet North Carolinas austobte. Die Abstände zwischen den Katastrophen scheinen kürzer und kürzer zu werden, und fragt man Jennings Frau Ellen, ob sie deswegen schon mal ans Wegziehen dachte, ist die Antwort ein klares Nein.
Die Baracke, in der Bobby Garey mit sechs Katzen haust, besteht aus zwei Wohnwagen, die irgendwer irgendwann auf ein Betonfundament gestellt hat, dazwischen Platz für ein Auto. Die staatliche Rente, 650 Dollar im Monat, ist zu knapp bemessen, als dass man davon leben könnte. Garey muss etwas dazuverdienen, und das tut er, indem er an 19 Stunden pro Woche den Rasen eines Provinzflughafens mäht.
Bobby Garey hat Erfahrungen mit Wirbelstürmen. Er zählt ihre Namen auf, als wären es alte Bekannte: Hazel, Fran, Floyd, Matthew, nun Florence. Als Hazel 1954 eine verheerende Sturmflut verursachte und New Bern unter Wasser setzte, hieß es, ein solcher Hurrikan sei in dieser Gegend nur einmal alle 500 Jahre denkbar. „Nun, das ging ziemlich schnell mit den 500 Jahren“, spöttelt Garey. An Hazel könne er sich noch gut erinnern, doch Florence habe noch größeres Unheil angerichtet. Hazel war der einzige Sturm der Kategorie 4, der North Carolina heimsuchte, seit es moderne Wetteraufzeichnungen gibt. Florence ging als Kategorie 1 in die Chronik ein. Doch nicht nur Bobby Garey findet, dass die Skala bestenfalls die halbe Wahrheit sagt. Florence hing wie eine nasse Glocke über North Carolina, so dass es tagelang goss wie aus Kannen. Deshalb ist der Schaden so groß, wobei sich sein volles Ausmaß noch immer nicht abschätzen lässt. 42 Menschen kamen ums Leben, eine vorläufige Bilanz.
Trent Court liegt direkt an einem Fluss, nur ein paar Schritte entfernt vom majestätisch breiten Trent River. Zweistöckige Reihenhäuser, rote Backsteinfassade, fast alle Mieter sind Afroamerikaner. Seit Florence die Wassermassen des Atlantiks in Richtung New Bern drückte, lässt sich keine der 218 Sozialwohnungen mehr bewohnen. Bevor ans Renovieren zu denken ist, müssen aufgeweichte Schränke, vergammelte Kühlschränke, Sofas mit Schimmelflecken aus dem Erdgeschoss entsorgt werden.
So stand es auf einem Zettel, der an Erica Saunders‘ Eingangstür klemmte, als sie aus einer Notunterkunft zurückkehrte, um nach dem Rechten zu sehen. Auf dem Zettel stand auch, dass man die Wohnungsbehörde kontaktieren möge, falls es Fragen gebe. Sie habe ein Telefonat nach dem anderen geführt, erzählt Saunders, ohne auch nur ansatzweise eine Antwort auf die Frage zu bekommen, die sie am meisten bewegt: Wo sie in Zukunft wohnen soll. Einfach wegziehen aus New Bern, das geht nicht. Hier hat sie Arbeit, bei einer Seniorenbetreuung. Anderswo, glaubt sie, würde sie kaum eine neue Stelle finden, „außerdem fehlt mir das Geld für einen Umzug“. Erica Saunders, kann man sagen, ist zum Bleiben verdammt. Fürs Erste haben Freunde sie aufgenommen. Wann ihr die Kommune eine Bleibe anbietet, kann niemand sagen.
Seit Längerem kursieren Gerüchte, nach denen Trent Court, in der Nähe eines Jachthafens gelegen, abgerissen und an einer Autobahn neu aufgebaut werden soll. Eben weil es so dicht am Fluss liegt, ohne durch Uferdämme geschützt zu sein. In den Schubladen liegen Pläne, nach denen die im Zweiten Weltkrieg errichtete Anlage durch teure Stadtvillen ersetzt werden soll. „Und dann, erst dann, werden sie hier eine Flutmauer hochziehen“, orakelt Ricky Jones, ein Ex-Soldat, der Erica Saunders beim Ausräumen hilft. „Diese Mauer gäbe es längst, würden diese Millionenvillen hier stehen, jede Wette.“Eines, schiebt Jones hinterher, würde er gern noch in der Zeitung gedruckt sehen. Seine Meinung zu Donald Trump, dem Präsidenten, der nach New Bern kam, ohne am Trent Court auch nur für einen Moment anzuhalten. Die vergessenen Männer und Frauen, von denen Trump so gern rede, das seien doch sie. Die Menschen in den Sozialwohnungen am Fluss.