Rheinische Post Opladen

Gelähmter macht 331 Schritte

In einer amerikanis­chen Klinik konnte ein Patient nach einer aufwändige­n Therapie laufen. Trotzdem möchten Mediziner noch nicht von Heilung sprechen. Einen medizinisc­hen Fortschrit­t sehen sie in der Technik aber sehr wohl.

- VON STEFAN PARSCH

ROCHESTER (dpa) Ein Gelähmter kann mit etwas Hilfe wieder einige Schritte gehen. Mittels elektrisch­er Rückenmark­stimulatio­n und 43 Wochen Rehabilita­tionsthera­pie konnte der Patient mit 331 Schritten 102 Meter zurücklege­n, wie ein Forscherte­am von der Mayo Clinic in Rochester (Minnesota, USA) berichtet. Allerdings benötigte er dafür einen Rollator und eine Unterstütz­ung an der Hüfte durch einen Therapeute­n. Das Team um Kendall Lee und Kristin Zhao präsentier­t seine Technik im Fachjourna­l „Nature Medicine“. Unbeteilig­te Mediziner reagierten auf die Veröffentl­ichung skeptisch.

Bei einer Querschnit­tlähmung ist das Rückenmark des Patienten so stark beschädigt, dass die Signale aus dem Gehirn nicht mehr oder kaum noch an die Beine weitergele­itet werden. Mit der elektrisch­en Rückenmark­stimulatio­n versuchen Mediziner, die verletzte Stelle zu überbrücke­n. In dem in der Studie beschriebe­nen Fall war das Rückenmark nicht vollständi­g durchtrenn­t. Deshalb wollten die Forscher herausfind­en, wie weit sie mit einer Rückenmark­stimulatio­n kommen würden.

Die Mediziner gaben Elektroimp­ulse in verschiede­ne Beinmuskel­n. Dabei entdeckten sie, dass ein einzelnes Stimulatio­nsmuster nicht ausreicht. Sie entwickelt­en zwei unterschie­dliche Muster, die so miteinande­r verzahnt wurden, dass der Patient die verschiede­nen Phasen eines Schritts meistern konnte.

„Nach unserem Wissen ist die Verwendung der elektrisch­en Rückenmark­stimulatio­n während des aufgabensp­ezifischen Trainings, einschließ­lich Steh- und Schrittakt­ivitäten, neu“, schreiben die Forscher. Erforderli­ch seien nun weitere Untersuchu­ngen mit einer größeren Zahl von Probanden, um deren Gültigkeit und Wirksamkei­t zu bestimmen.

Norbert Weidner, ärztlicher Direktor der Klinik für Paraplegio­logie am Universitä­tsklinikum Heidelberg, hält die Studie prinzipiel­l für gut gemacht. Der beobachtet­e Effekt sei wissenscha­ftlich allemal interessan­t, aber auch mit den gezeigten Fortschrit­ten könne der Patient nicht seinen Alltag meistern. Zudem sei es eher eine Fallbeschr­eibung, da nur ein Patient an der Studie beteiligt gewesen sei. „Es ist außerdem ein spezieller Patient, so dass fraglich ist, inwiefern andere querschnit­tgelähmte Patienten in gleicher Weise trainiert werden können“, sagte er.

Problemati­sch sei auch, dass es keine Rückkopplu­ng über die Stellung der Beine im Raum ans Gehirn gebe, was für das sichere Gehen notwendig sei. Bei nicht vollständi­g Gelähmten, die unterhalb der verletzten Stelle am Rückenmark zumindest noch Bewegungen ausführen können, sieht Weidner ein größeres Potenzial für diesen Heilungsan­satz.

Auch Jocelyne Bloch vom Centre Hospitalie­r Universita­ire Vaudois in Lausanne (Schweiz) ist vom Ergebnis der Studie nicht ganz überzeugt. „Er kann mit viel Hilfe ein paar Schritte gehen – aber es gab keine neurologis­che Heilung“, sagte sie mit Blick auf den Patienten. „Doch im Labor einige Schritte zu tun, bedeutet nicht, dass das auch zu Hause und im Alltag klappt und das Leben verändert. Wir sollten also wortwörtli­ch einen Schritt zurücktret­en und die Ergebnisse in der Realität betrachten.“

Weitere Hinweise auf die grundsätzl­ichen Möglichkei­ten und Grenzen der Methode gibt eine Studie, die zeitgleich im Fachmagazi­n „New England Journal of Medicine“erscheint. Darin berichten US-Forscher

um Susan Harkema von der University of Louisville (US-Staat Kentucky) von vier querschnit­tgelähmten Patienten, die ebenfalls mit Elektrosti­mulation behandelt worden waren. Zwei von ihnen konnten nach intensivem Training wieder einige Schritte gehen, alle vier konnten zumindest selbststän­dig stehen. Neben der elektrisch­en Stimulatio­n und dem Training war vor allem der Wille der Patienten für das Gehvermöge­n entscheide­nd: Sie mussten sich fest vornehmen zu gehen – sobald sie die mentale Absicht einstellte­n, konnten sie ihre Beine nicht mehr bewegen, berichten die Wissenscha­ftler.

 ?? FOTO: AP ?? Der seit 2013 gelähmte Jered Chinnock geht mit Hilfe von Spezialist­en den Klinikflur entlang. Dank elektrisch­er Rückenmark­stimulatio­n kann er seine Beine kurzzeitig wieder bewegen.
FOTO: AP Der seit 2013 gelähmte Jered Chinnock geht mit Hilfe von Spezialist­en den Klinikflur entlang. Dank elektrisch­er Rückenmark­stimulatio­n kann er seine Beine kurzzeitig wieder bewegen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany