Der Kampf gegen Kinderpornografie ist kompliziert. Die Ermittler des Bundeskriminalamts versuchen es trotzdem – und gehen dabei an ihre Grenzen. Erkundungen in Wiesbaden und Gießen.
WIESBADEN/GIESSEN Der größte Kriminalitätsschwerpunkt der Bundesrepublik liegt nicht in Duisburg, Köln oder Berlin. Er steckt in Hosentaschen und steht auf Schreibtischen. Er befindet sich in der Straßenbahn, am Bahnhof, im Wohnzimmer und auf der Toilette. Immer und für jeden erreichbar. Man muss sich nicht verstecken oder eine Maske aufziehen, um dorthin zu gelangen, nur das Handy oder den Computer anschalten. Ganz einfach.
Für Täter ist das Internet eine Insel der Seligen. Sie können dort tun und lassen, was sie wollen. Und genau das machen sie auch.
Auf „Elysium“, der Insel der Seligen aus der griechischen Mythologie, hat Joachim P., 58, sich wohl gefühlt. Am frühen Morgen des zweiten Weihnachtstages 2016 lädt P. alias „Nocuta“Video um Video hoch. Darauf ist ein Mädchen zu sehen, dass sich Gegenstände einführt. Oder eines, dessen Intimbereich gefilmt wird. Oder Mädchen und Jungen, die nackt aufeinander liegen. So geht es weiter. Kinder zwischen vier und zwölf fassen sich an, fassen andere an, werden mit verschiedenen Körperflüssigkeiten konfrontiert. Knapp 20 dieser Beiträge landen so am 26. Dezember 2016 auf der größten Plattform für Kinderpornografie im Darknet, die deutsche Ermittler je ausgehoben haben: Elysium.
In einem unscheinbaren Zweckbau in Gießen sitzt Georg Ungefuk, vor sich ein Laptop, an der Wand Zeitungsartikel über „Cybercops“. Ungefuk ist Oberstaatsanwalt bei der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität, kurz: ZIT. Er leitete die Ermittlungen im Fall „Elysium“, in dem sich derzeit Joachim P. und drei weitere Männer vor dem Landgericht Limburg verantworten müssen. Die ZIT ist der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt zugeordnet und wegen der örtlichen Nähe zuständig für das Bundeskriminalamt in Wiesbaden. Sie ist eine Spezialeinheit, die Täter aus dem Internet identifizieren soll. Bei Elysium ist ihr das gelungen, ein großer Erfolg für Ungefuk und sein Team.
Doch es gibt noch mehr Inseln der Seligen, viel mehr. Sie zu finden ist nicht besonders einfach. Es ist, sagt Oberstaatsanwalt Ungefuk, wie die Nadel im Heuhaufen zu finden. Wobei ein Heuhaufen im Vergleich zum Internet durchaus übersichtlich erscheint. Es gibt das Clearnet, wie Ermittler das gewöhnliche Internet nennen, das selbst schon viele Möglichkeiten für Straftäter bietet. In den Tiefen des Darknets aber, dem anonymisierten Teil des Internets, den man nur über den Tor-Browser erreicht, ist alles möglich. Waffen, Drogen, Kinderpornos.
Am Ende einer Wiesbadener Spielstraße sitzt das Referat SO43 des Bundeskriminalamts, im Bereich Schwere und Organisierte Kriminalität zuständig für Kinderpornografie und sexuellen Missbrauch. Das Haus ist gesondert gesichert, nicht jeder Beamte kann hier einfach hineinspazieren. Das Material ist extrem heikel, und die Gefahr, dass es in falsche Hände gerät, zu groß. In diesem Haus machen die Experten der SO43 Jagd auf die Täter. In diesem Haus sehen sich die Ermittler Fotos und Videos an, von nackten Babys und missbrauchten Kindern.
Es ist, das mag man kaum glauben, durchaus ein beliebter Job beim BKA. Die meisten kommen freiwillig in die Abteilung und gehen erst, wenn ihnen woanders eine bessere Karriereoption winkt. Die Arbeit ist gleichwohl nach menschlichem Ermessen schrecklich. Mehrere Stunden sichten die Frauen und Männer der SO43 das Material. Gibt es Hinweise auf den Tatort? Vielleicht ein Busticket, das der Täter vergessen hat, aus dem Bild zu räumen? Drei Stunden, vielleicht vier, geht so etwas am Stück, dann gehen manche für eine Stunde raus zum Sport, den Kopf frei bekommen. Wenn es ein ganz besonders harter Tag war, dann dürfen sie am nächsten Morgen auch später kommen. Psychologen helfen beim Verarbeiten.
So unvorstellbar es erscheint, so penibel kategorisieren die Täter ihre Schandtaten. Im Internet findet jede noch so abscheuliche Fantasie ihre Befriedigung. In den Foren des Darknets gibt es, akkurat aufgelistet, Videos, in denen Kindern alle Knochen gebrochen werden. Videos, in denen kleine Mädchen zum Sex mit Tieren gezwungen werden. Videos, in denen Babys gefesselt, geschlagen und mit Kot beschmiert werden. Videos, in denen die Seele von kleinen Menschen gebrochen wird. Videos, in denen eine Zukunft zerstört wird.
Die Täter tauschen ihre Erfahrungen in den Foren aus, fantasieren, was sie gern mal sehen würden. Widerlicher geht immer. Und irgendjemand setzt die Fantasien dann in die Tat um.
Das Bundeskriminalamt ist hinter diesen Tätern her. Die Ermittler durchsuchen, soweit sie können, selbst die Foren. Aber sie leben vor allem von Hinweisen. In Staufen, wo eine Mutter und ihr Lebensgefährte den Sohn über Jahre missbraucht und verkauft haben, war es ein anonymer Tipp, der das BKA auf die Spur brachte. Im Fall „Elysium“war es eine Lücke in den Sicherheitsvorkehrungen der Täter. Die verlässlichste Quelle aber sind die Vereinigten Staaten von Amerika.
35.000 Hinweise kamen im vergangenen Jahr aus den USA bei der Wiesbadener Abteilung SO43 an, 22.000 davon waren nach deutschem Strafrecht relevant. Sie kommen vom „National Center for Missing and Exploited Children“, einer regierungsnahen Behörde. Alle amerikanischen Internetanbieter sowie digitale Netzwerke wie Google oder Facebook haben sich verpflichtet, das von ihnen entdeckte kinderpornografische Material an die Behörde zu melden. Es funktioniert wie eine Radarfalle. Die Behörde leitet dann die Hinweise an die Nationen weiter, in denen mutmaßlich der Tatort liegt.
Die ZIT von Georg Ungefuk eröffnet ein Verfahren gegen Unbekannt, das Bundeskriminalamt beginnt die Ermittlungen. Je nachdem, wo sie die Täter verorten, müssen sie die jeweiligen Landesbehörden einbinden oder ihnen das Verfahren übergeben. Der Föderalismus der Bundesrepublik macht das Vorgehen gegen Straftaten im weltweiten Internet nicht unbedingt einfacher. Aber der Staatsaufbau ist nur eines der Probleme, ein eher kleineres.
Von den Informationen, die das BKA über den Täter hat, Nickname „Harry 007“, eine russische E-Mail-Adresse, bleibt in den meisten Fällen nur die IP-Adresse übrig. Nur sie führt – von Ausnahmefällen abgesehen – die Behörden direkt zum Täter. Die IP-Adresse ist in der Cyberkriminalität das, was der Fingerabdruck beim klassischen Tötungsdelikt ist. Nur, dass die Deutschen keine IP-Datenbank haben.
Die Vorratsdatenspeicherung, also das längerfristige Speichern bestimmter Kommunikationsdaten, das liebste Feindbild aller Datenschützer, ist in Deutschland zur Zeit ausgesetzt. Gerichte haben entschieden, dass die deutschen Regeln gegen europäisches Recht verstoßen. Bald soll das Bundesverfassungsgericht über die Vorratsdatenspeicherung urteilen, Ausgang: überaus ungewiss.
Aktuell bedeutet das: Die Internetanbieter wie 1&1, Unitymedia oder die Telekom sind nicht verpflichtet, die IP-Adressen zu speichern. Die digitalen Fingerabdrücke sind nicht identifizierbar. Manche Anbieter speichern zwar freiwillig für ein paar Tage, aber eine verlässliche Grundlage für Ermittlungen ist das nicht. Jede Anfrage an Telekom und Co. kostet den Staat 25 Euro. Doch bis die Ermittler überhaupt anfragen können, vergeht Zeit. Vom Hochladen eines Videos über das Erkennen des Materials in den USA, bis der Hinweis in Gießen und Wiesbaden ist, dauert es ein paar Tage. Die Daten sind dann oft gelöscht.
In mehr als 8400 Fällen konnte die IP-Adresse im vergangenen Jahr nicht ermittelt werden, heißt es aus dem Bundeskriminalamt. Mehr als 8400 potenzielle Missbräuche, die nicht aufgedeckt werden können und für die keine weiteren Ermittlungen eingeleitet werden können. „Sie sehen ein Kind, das penetriert wird, aber Sie können nichts machen. Das ist so frustrierend“, sagt ein Ermittler, der täglich damit zu tun hat. Man habe ein Kennzeichen, aber könne es nicht abfragen. Die Debatte, ob Polizisten selbst kinderpornografisches computergeneriertes Material hochladen dürfen sollen, wie es die Justizminister der Länder fordern, hält er für untergeordnet. Das wäre sicher nicht schlecht zu haben, aber ohne Vorratsdatenspeicherung kämen die Ermittler damit auch nicht weiter.
Die Aufklärungsquote im Bereich Kinderpornografie liegt laut polizeilicher Kriminalstatistik bei etwa 90 Prozent. Die Fälle, in denen die Abfrage der IP-Adresse ins Nichts führt, tauchen in der Statistik nicht auf. Rechnet man sie hinein, liegt die Quote bloß noch bei knapp 40 Prozent.
Das Material, das Joachim P. und seine Komplizen für ihre Foren verwenden, entsteht vor allem unter Zwang. Väter missbrauchen ihre Kinder, drohen ihnen, wenn sie nicht machen, was sie sagen. Kinderpornografie entsteht heute auch in Kinderzimmern. Wenn vor Jahren ein handgeschriebener Brief als Liebesbeweis unter Gleichaltrigen ausreichte, verschicken Kinder und Jugendliche heute über Snapchat und Whatsapp Fotos von ihren Geschlechtsteilen oder Videos, wie sie sich selbst befriedigen.
Das ist mindestens naiv. Wenn man es aber weiterleitet, kann es als Verbreiten kinderpornografischer Schriften sogar strafbar sein. Einmal im Internet, lassen sich die Videos oder Bilder kaum mehr einfangen. Dann findet man sie plötzlich unter der Kategorie „Webcam Girl“auf Plattformen wie Elysium.
„In vielen Fällen ist das, wie die Nadel im Heuhaufen zu finden“Georg Ungefuk Oberstaatsanwalt