Im Sturzflug zurück in den Heimatschlag
Für Franz Musiol sind Brieftauben das „Ein und Alles“. 2017 gewann sein Verein die Deutsche Meisterschaft.
LEVERKUSEN Es ist rund ein Jahr her, da geschah in den Augen der Brieftaubenzüchter etwas Ungeheures: Zum ersten Mal trug sich ein Mitglied der Reisevereinigung Bayer als Deutscher Verbandsmeister in die Geschichte des seit 50 Jahren bestehenden Vereins ein. Der außergewöhnliche Erfolg von Franz Musiol, der bereits zahlreiche andere Siege auf regionaler Ebene und im Rheinland aufzuweisen hat, bescherte dem Verein den ersten Platz der nationalen Rangliste. Wiederholen lässt sich diese Leistung so schnell aber nicht. „Für 2018 rechne ich mir keine Chancen aus“, sagt der ehemalige Bayer-Betriebsschlosser, der 1971 mit seinen Eltern aus Oberschlesien nach Leverkusen kam und heute mit Ehefrau Angelika sowie drei erwachsenen Kindern in Schlebusch lebt. Weil der Verband zerstritten ist und die Leverkusener ausgeschlossen sind, kann er seinen Titel nicht verteidigen. „Aber im nächsten Jahr werden die Karten neu gemischt“, ist Musiol überzeugt.
Die Tiere, die ihm beim Wettflug den Sieg brachten, sind hinter dem Haus in einem großen Schlag untergebracht. Der Clou dabei: Bei Sonneneinstrahlung werden Markisen über den Volieren ausgefahren, um die Hitze zu drosseln. „Tauben sind mein Ein und Alles“, sagt der Hobbyzüchter, der diese Leidenschaft mit 84 Vereinskameraden teilt.
Einer von ihnen ist Karl-Heinz Menrath (76), Vorsitzender seit 44 Jahren. „Unser Hobby kennt keine Altersgrenzen“, beschreibt Menrath einen wichtigen Grund. Was die Freunde des Brieftaubensports außerdem vereint, ist die Liebe zur Kreatur. „Die Brieftaube ist ein äußerst sensibles Tier“, sagt Menrath. „Sie gibt die Zuneigung des Züchters mit Zuneigung zurück.“Musiol ergänzt: „Taubenzüchter müssen ihre Tiere lieben, dann bringen sie Leistung. Ich selber rede mit meinen Tauben, wie mit Menschen.“
Jeden Morgen begrüßt er sie, ehe er sie versorgt. Jeden Abend sagt er ihnen gute Nacht, bevor er das Licht löscht. Und wenn ein Vogel nicht pünktlich zurückkehrt, ist er nahezu krank vor Sorge. Immer wieder kommt das vor. Meistens dann, wenn eine Taube am Haus von einem Habicht oder Falken „geschlagen“wird, wie es in der Fachsprache heißt. „Raubvögel wissen genau, wo es was zu holen gibt“, ächzt Menrath, der im Jahr fast 40 Tiere auf diese Weise verliert.
Seit dem Altertum werden Brieftauben geschätzt. Sie überbrachten schon damals wichtige Informationen per Luftpost von weit entfernten Absendern. Bis heute nutzen Menschen die Fähigkeit der Vögel, ihren Heimatsschlag instinktiv zu finden. Vorausgesetzt, sie sind gesund und fit genug, um den stundenlangen Nonstop-Flug zu meistern.
Neben der absoluten Gesundheit ist die Fütterung, abgestimmt auf den Flug, besonders wichtig. In dieser Hinsicht hat jeder Züchter sein spezielles Geheimnis. Eine gut vorbereitete Brieftaube schafft die Strecke – analog zum Leistungssportler – ohne große Ermüdungserscheinungen. „Jungtauben werden langsam auf ihr Lebensziel vorbereitet“, sagt der Vorsitzende. Begonnen wird meist mit Trainingsflügen und Distanzen zwischen fünf und 20 Kilometern, bei denen Jungvögel durch Erfahrene begleitet werden. Die eigentlichen Wettflüge beginnen
im Mai. Bis Ende Juli stehen rund 14 Wettbewerbe mit Entfernungen zwischen 150 und 650 Kilometern Luftlinie auf dem Programm. Die Tiere werden dann durch ein Spezialfahrzeug, dem sogenannten Kabinen-Express, meistens am vereinseigenen Grundstück abgeholt und in einer Nachtfahrt zum Bestimmungsort gebracht. Der Plan ist so gelegt, dass der Transporter rechtzeitig am Bestimmungsort steht. So haben Tiere genügend Zeit, die Flugroute bereits im Fahrzeug anhand ihres Instinktes festzulegen.
Sobald die Tauben aufgelassen werden, sind sie vollkommen auf sich gestellt. Erst wenn ihre kleinen Lieblinge aus großer Höhe im Sturzflug den Heimatsschlag ansteuern und zum Zeichen der Freude noch ein oder zwei Ehrenrunden drehen, können die Taubenbesitzer zufrieden aufatmen.
Das Hobby ist zwar auf Leistung abgestimmt. Doch die Freude über die Heimkehr von Nachzüglern ist genauso groß.