Vertauschte Rollen: Dortmund ist der Favorit
Zum ersten Mal seit sechseinhalb Jahren geht der BVB mit einem Vorsprung ins Spitzenspiel gegen Bayern München.
DORTMUND Es ist das größte Spiel im deutschen Fußball. Das ehemalige Westfalenstadion ist mit über 80.000 Zuschauern längst ausverkauft. Borussia Dortmund hätte zum Gastspiel von Bayern München doppelt so viele Karten absetzen können. Auf der ganzen Erde werden TV-Bilder zu sehen sein, 400 Journalisten berichten am Samstag (18.30 Uhr). Und zum ersten Mal seit sechseinhalb Jahren geht der BVB mit einem Vorsprung vor den Bayern in die Begegnung. Die wichtigsten Themen:
Seit wann ist es das Topspiel der Liga? Wer in Deutschland den Titel gewinnen will, der muss an den Bayern vorbei. 28 Mal wurden die Münchner Meister, 27 Mal seit ihrem Aufstieg 1965 in der Bundesliga. Die meisten Konkurrenten blieben nicht lange. Die Mönchengladbacher verabschiedeten sich gegen Ende der 1970er Jahre aus dem Zweikampf, es folgten der Hamburger SV, Werder Bremen und Bayer Leverkusen. Ein paar Außenseiter bildeten die Ausnahme von der Regel, dass München Meister wird. Bereits Mitte der 1990er war Borussia Dortmund die große Gegenspielerin. Der Klub überstand eine tiefe Delle zu Beginn des neuen Jahrtausends. Und Trainer Jürgen Klopp führte den BVB an die Bayern heran, er führte ihn sogar an den Bayern vorbei. Die Dortmunder Titel 2011 und 2012 haben den Münchnern weh getan. Sie reagierten wie immer, wenn ihnen jemand weh tut, sie investierten. Sechs Titel in Folge waren das Ergebnis.
„Wenn die Bayern schwächeln…“, dann muss man da sein. Das ist der Spruch, den die „Verfolger“in jeder Sommerpause wiederholen. Diesmal scheinen sich die Hoffnungen Fußball-Deutschlands auf ein zumindest spannendes Meisterrennen zu erfüllen. Die Bayern stecken mitten in einer Umbruchphase, sie schwächeln tatsächlich. Und der BVB ist da. Mit vier Punkten Vorsprung geht er ins Spiel.
Worum geht’s? Noch geht es nicht um den Titel, denn noch kein Klub ist am elften Spieltag zum Meister gekrönt worden. Das Spiel könnte aber die Kräfteverhältnisse beschreiben. Wenn Dortmund gewinnt, ist es sieben Punkte davon, das wäre ein Fingerzeig auf den Herbstmeister. 70 Prozent der Teams, die zur Saisonhälfte führten, setzten sich auch am Ende durch. Die Teams. Dortmund beeindruckt nicht nur seine Fans mit Tempo, jugendlichem Schwung und tüchtig Toren. „Dortmund“, sagt Bayern Münchens Präsident Uli Hoeneß, „spielt eine sehr gute Saison.“Er ist allerdings sicher, „dass sie nicht so gut spielen, wie wir spielen könnten“. Der Beweis für diese These steht aus. Die Münchner haben Probleme mit ihren in die Jahre gekommenen Stars. Der Umbruch gelingt nicht, weil die Nachrücker verletzt (Kingsley Coman) oder noch nicht auf höchstem Niveau (Serge Gnabry) angekommen sind. Die Weltmeister Jerome Boateng, Thomas Müller und Mats Hummels haben viel mit sich selbst zu tun. Der Mannschaft geben sie wenig.
Die Stars. Große Spieler entscheiden große Spiele. Den Beweis dafür lieferten die Duelle zwischen dem BVB und den Bayern in den zurückliegenden Jahren. Dortmund setzt auf den endlich mal verletzungsfrei durch die Vorbereitung gestarteten Marco Reus. Er darf aus der zweiten Reihe sein Gefühl für die vielgerühmte Tiefe des Raumes ausleben, er ist als Kapitän die klare Führungsfigur. Die Bayern müssen hoffen, dass Torwart Manuel Neuer mal wieder einen jener Tage verbucht, die ihn in den Ruf des besten Schlussmanns der Welt befördert haben. Und sie haben Robert Lewandowski, der allen Ruckeleien im Bayern-Spiel zum Trotz noch immer weiß, wo das gegnerische Tor steht.
Die Trainer. Lucien Favre hat das Dortmunder Spiel in kurzer Zeit positiv beeinflusst. Er nutzt die Geschwindigkeit seiner Offensivspieler, und er lehrt geduldig die Feinheiten eines kollektiven Abwehrspiels. Er sagt gern: „Wir sind noch nicht so weit.“Das leise Understatement gehört zu seiner Grundausstattung. Sein Kollege Niko Kovac konnte in München noch nicht stilbildend wirken. Er ist damit beschäftigt, seine älteren Herren bei Laune zu halten und die wenigen jüngeren Spieler heranzuführen. Beides gelingt noch nicht so recht.
Der Favorit. Dass sich die Bayern freiwillig in die Rolle des Außenseiters fügen, hat schon fast historische Dimensionen. Nach dem Saisonverlauf ist es aber eine sehr realistische Einschätzung. Dortmund gefällt es ganz und gar nicht, als Favorit angesehen zu werden. In Spielen gegen die Bayern trägt der BVB lieber das unscheinbare Gewand des Underdogs. Sportdirektor Michael Zorc bemüht sich, den Ball flach zu halten. „Es ist nicht wichtig, wer als Favorit ins Spiel geht“, beteuert er.
Die Prognose. Die Bayern haben beim Dortmunder 0:2 bei Atlético Madrid gesehen, dass eine Portion entschlossener Härte nicht unbedingt nach dem Geschmack der jungen BVB-Kräfte ist. Es ist allerdings fraglich, ob die Münchner so viel Männerfußball und so viel Geschlossenheit auf den Rasen bringen können wie Atlético. Wenn Dortmund sein Spiel findet, wird es für die Bayern schwer.