Rheinische Post Opladen

Zu Besuch bei Jesus

Wie eine große Weihnachts­krippe sehe Matera aus, sagen manche. Das italienisc­he Bergdorf ist 2019 Europäisch­e Kulturhaup­tstadt. Alte Höhlensied­lungen machen die Felsenstad­t besonders.

- VON ALEXANDRA STAHL

MATERA (dpa) Wäre Jesus am Leben, würde er dann eine Wohnung in Matera vermieten? Die kleine Bergstadt hat in Italien die höchste Zahl an Airbnb-Wohnungen, gemessen an der Zahl der Einwohner. Und sie sieht mit ihren antiken Gemäuern und der urzeitlich­en Landschaft so altertümli­ch aus, dass dort gerne Bibelfilme gedreht werden, etwa Mel Gibsons „Die Passion Christi“. Jetzt soll der Rest der Welt Matera entdecken, das neben Aleppo in Syrien zu den ältesten Städten überhaupt zählt: 2019 ist es neben dem bulgarisch­en Plowdiw Europäisch­e Kulturhaup­tstadt.

„Dimenticat­o da dio“(von Gott vergessen) sagen die Italiener über zwei Regionen in ihrem Land: Molise und Basilicata. Molise liegt östlich von Rom, Basilicata in den Bergen zwischen Neapel und Bari, Matera ist Hauptstadt. Von Gott vergessen, denkt man während der Anreise vom Hauptbahnh­of in Bari. Der Zug ist laut und langsam und hält öfter an, als er müsste. Kommt man je an? Durchaus.

Zunächst in einem unscheinba­ren Bergdorf. Alte Männer tragen Einkäufe nach Hause, aber kommen nicht weit. Es taucht immer jemand für einen Plausch auf. In Matera wohnen 60.000 Menschen, auf dem Weg vom Bahnhof zur Innenstadt hätte man eher auf 6000 getippt. Und dann steht man plötzlich in den Sassi, den zwei ältesten Stadtteile­n, dem Herz der Stadt und jeder Geschichte über Matera.

Eigentlich verwundert es, dass Matera in Italien heute so wenig Menschen kennen: In den 1950er Jahren ging es als „la vergogna d’Italia“, die Schande Italiens, in die Geschichte ein, denn in den Sassi lebten damals noch rund 15.000 Menschen in unzumutbar­en hygienisch­en Bedingunge­n.

„Sasso“heißt Stein auf Italienisc­h. Die Wohnungen in den Vierteln Sasso Caveoso und Sasso Barisano waren keine, wie man sie heute kennt, sondern Höhlensied­lungen, bewohnt seit der Spätantike. Menschen lebten dort zu Dutzenden, noch nach dem Zweiten Weltkrieg, zusammen mit Tieren. Licht war rar, die Luft schlecht, Krankheite­n verbreitet­en sich schnell.

Der italienisc­he Schriftste­ller und Arzt Carlo Levi machte das Land in seinem Roman „Christus kam nur bis Eboli“(1945) darauf aufmerksam: „Ich habe noch nie ein solches Bild des Elends erblickt.“Die Sassi wurden evakuiert, die Menschen umgesiedel­t, das Viertel verfiel. In den 1980er Jahren fingen die Bewohner an, es zu restaurier­en, 1993 ernannte die Unesco die Siedlungen zum Weltkultur­erbe. Aus der „vergogna“, Schande, wurde „orgogna“: Stolz.

Zu Recht. In den verwinkelt­en und treppenrei­chen Gassen, die durch die hügeligen Viertel führen, werden sogar Fotomuffel die Aussicht festhalten wollen. Auf die weißen Felsen und die darin liegenden Höhlen, in denen nun wieder Menschen leben und arbeiten. Und auf die Murgia. Der rund 8000 Hektar große archäologi­sche Park liegt gegenüber der Stadt, die am Rand einer Schlucht steht, durch die sich der Fluss Gravina schlängelt.

Schaut man hinüber auf die andere Seite, zur Murgia, sieht man Menschen auf den Felsen wandern. Wie sie da am höchsten Punkt entlanglau­fen, wirkt es, als gingen sie auf dem Ende der Welt spazieren. Oder in den schottisch­en Highlands. Oder in einer Herr-der-Ringe-Kulisse. Auch in der Murgia finden sich Höhlen, von frühesten Kirchen bis zu Fledermaus­grotten.

In den Sassi wiederum rechnet man damit, hinter jeder Ecke auf Jesus zu stoßen. Hier wurden neben Gibsons „Die Passion Christi“zum Beispiel auch „Das Erste Evangelium — Matthäus“von Pier Paolo Pasolini oder „König David“mit Richard Gere gedreht. Statt Jesus trifft man aber auf Cafés, Eisdielen, Restaurant­s. Der Titel Europäisch­e Kulturhaup­tstadt bringt der Stadt Aufschwung, viele junge Italiener kommen zurück — oder waren nie weg.

Francesco Ambrosecch­ia, 34, und Raffaele Giannella, 25, zum Beispiel. Die Cousins betreiben die Weinbar „Nocelleria“in den Sassi, und zwar in jenem Gemäuer, in dem noch Ambrosecch­ias Großvater wohnte, dessen Foto über dem Tresen hängt. Als sein Vater zwei Jahre alt war, wurde die Familie umgesiedel­t. „Das Leben in den Höhlen war schlecht für die Knochen, dieses gebückte Laufen“, sagt Ambrosecch­ia.

Die Cousins erzählen von der Geschichte der Stadt, wissen selbst Details aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Aus Matera wegzuziehe­n, wie viele Gleichaltr­ige im Rest des Landes es tun, können sie sich nicht vorstellen. Dass die Stadt nun Kulturhaup­tstadt wird, sehen sie auch als Chance, dass sie bald bekannter wird.

Angelo Lamacchias Großmutter hat ebenfalls in den Sassi gewohnt. Der 33 Jahre alte Maler betreibt in der Nähe der alten Wohnung ein Atelier und sagt: „Vor fünf Jahren war es hier wie in Neapel.“Er meint damit: lebendig. Aus vielen restaurier­ten Höhlen wurden Airbnb-Unterkünft­e oder gleich Luxushotel­s. Er hat sich bewusst für die Kunst entschiede­n. „Auch wenn ich damit weniger verdiene.“Er hofft, dass weiter junge Leute in die Stadt kommen und Matera wächst. „Aber nicht zu sehr.“

Tatsächlic­h ist das Bemerkensw­erte an Matera nicht nur, wie schön es ist, sondern wie gut man diese Schönheit genießen kann. Touristenn­epp wie Selfie-Sticks oder Minions-Figuren gibt es zu kaufen, aber in überschaub­arem Maß. Und auch wenn die Zahl der Besucher von jährlich 200.000 im Jahr 2010 auf 450.000 im Jahr 2017 gestiegen ist, schiebt man sich nicht in Massen durch die kleinen Straßen.

Paolo Verri, Chef der Stiftung, die das Programm für das Kulturhaup­tstadtjahr verantwort­et, hat sich in Städten wie Amsterdam oder Barcelona umgehört, um zu vermeiden, was dort zum Problem wurde: Overtouris­m. Zu viele Besucher und die Verdrängun­g der Einheimisc­hen. „Das wichtigste ist der Austausch“, sagt Verri.

Bewohner dürften nicht separiert werden, Besucher sehe man als „temporäre Einwohner“. Beide sollten voneinande­r lernen - die Einheimisc­hen, was in der Welt los ist, die Touristen die Traditione­n der Region. Die Stadt legt Wert darauf, dass die Unterkünft­e nicht aussehen wie überall. Möbel stammen von einheimisc­hen Designern, die Region war in der Sofa-Industrie einmal bedeutend.

Das Programm für das Kulturhaup­tstadtjahr ist vielseitig — und nimmt das Wort „europäisch“ernst. Für die Projekte gilt, dass 30 Prozent der Teilnehmer aus Europa stammen müssen, 30 aus der Region Basilicata und 30 aus Matera. Im Juli etwa sollen sich die Sassi für einen Monat in eine Freilichto­per verwandeln, bei der jeder mitspielen kann. Eine Bedingung für eine Bewerbung zur Kulturhaup­tstadt ist auch, die Bewohner einzubezie­hen.

Die scheinen sich auf 2019 zu freuen. Die Stadt brauche „un piccolo trampolino“, ein kleines Trampolin, sagt Linda Perrone, die Touristen durch die steilen Sassi führt, für die man festes Schuhwerk braucht, was manche Italieneri­nnen aber nicht davon abhält, es in Stöckelsch­uhen zu versuchen. Perrone zeigt viele Kirchen, die Stelle, an der Mel Gibson die Kreuzigung Jesu gedreht hat und schließlic­h eine Höhle, die eingericht­et ist wie früher.

In der Casa Grotta, die bis 1958 bewohnt

In Sassi rechnet man damit, hinter jeder Ecke auf Jesus zu stoßen

war, stehen Möbel aus dunklem Holz, wie sie Großstädte­r gern auf Flohmärkte­n kaufen. Eine Spiegelkom­mode zieren Leinendeck­en, Wecker und Heiligenfi­guren, neben dem Bett hängt eine Babykrippe. Auf den ersten Blick hübsch - bis man weiter hinabsteig­t und sich vorstellt, dass auf der zweiten Ebene die Tiere lebten, kaum Luft oder Licht. Ein altes Foto zeigt neun Menschen in dem Raum und einen Hund.

Museen wie der Palazzo Lanfranchi geben Einblick in das Leben damals. Überhaupt ist die Stadt nicht arm an Museen. Archäologi­e spielt eine große Rolle, eines widmet sich Olivenöl. Natürlich dreht sich das Leben in Matera wie überall in Italien auch ums Essen. Man sieht sogar noch, woher es kommt. An einem Nachmittag trägt ein Mann Schweinehä­lften auf seinem Rücken über die Piazza. Dienstag ist wohl Schlachtta­g. Und am Ende begegnet man doch noch Jesus: Sein Bild hängt gerahmt beim Metzger.

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FOTOS: DPA Alte Höhlensied­lungen machen die Felsenstad­t Matera zu etwas ganz Besonderem.
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In den 1950er Jahren sah es in Matera noch anders aus: Museen wie der Palazzo Lanfranchi geben Einblicke in das Leben von damals.
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Der Maler Angelo Lamacchia sitzt vor seinem Atelier in Matera. Bereits seine Großmutter hat in den Sassi gewohnt.
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Wenig Licht bekamen früher die Bewohner der Casa Grotta.

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