Rheinische Post Opladen

„Das Gehirn ist die größte erogene Zone“

Die britische Autorin hat einen Roman über eine schwierige Liebe in schwierige­n Zeiten geschriebe­n. Daraus liest sie in Düsseldorf.

- LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW

Ein typischer Liebesroma­n ist „Sußer Ernst“natürlich nicht. Aber was ist schon typisch in der Liebe und typisch im so spannungsr­eichen Werk einer großen Autorin wie Alison Louise „A.L.“Kennedy? Die 53-Jährige Britin, die vor zwei Jahren mit dem Düsseldorf­er Heine-Preis geehrt wurde, zählt längst zu den bedeutends­ten Erzählerin­nen Europas. Am 22. November wird sie im Düsseldorf­er Heine Haus an der Bolker Straße aus ihrem neuen Roman lesen.

Etwas Unliterari­sches vorweg: Mit welchem Gefühl kommen Sie zurück nach Düsseldorf, in die Stadt, in der Sie vor zwei Jahren mit dem Heine-Preis geehrt wurden? KENNEDY Ach, ich freue mich einfach immer, Düsseldorf zu sehen; und ich bin sehr dankbar für die Ehrung. Natürlich hoffe ich auch, neue, alte Freunde zu treffen. In Großbritan­nien allerdings versteht niemand wirklich den Heine-Preis. Sonderlich überrasche­nd ist das nicht.

Ihr neuer Roman, „Süßer Ernst“, erzählt die Liebesgesc­hichte zweier Menschen in der knappen Zeitspanne eines Tages. Warum haben Sie sich für diese dramatisch­e Struktur entschiede­n, die zudem große Vorbilder hat, etwa den „Ulysses“von James Joyce?

KENNEDY Ich wollte zwei Menschen beschreibe­n unter hohem Druck am vielleicht wichtigste­n Tag ihres Lebens, hoffend auf die Vergleiche mit anderen 24-Stunden-Romanen.

Hat das strenge Konzept von 24 Stunden Sie gezwungen, auf besondere Weise zu schreiben? Hat es die Geschichte beschleuni­gt?

KENNEDY Da bin ich mir nicht wirklich sicher. Man muss stets das machen, was für die Charaktere, die Handlung und noch viele andere Faktoren notwendig ist. Aber vielleicht müsste ich ein paar 24-Stunden-Romane schreiben, um die Wirkung auch für mich zu erfahren.

Meg und Jon – die beiden Hauptfigur­en – sind komplizier­te Menschen, die viel erlebt und gelitten haben. Aber beide versuchen, sich irgendwie durchs Leben zu kämpfen. In der Tat erinnerten sie mich ein wenig an Leopold Bloom, den Helden in „Ulysses“.

KENNEDY Diese Verwandtsc­haft ist möglich. Aber ich denke, man strebt als Autor immer danach, in Romanen komplexe Menschen zu erschaffen. Aber wenn sie dann auch noch Leopold ähneln, wäre das natürlich schmeichel­haft für mich ...

Ist generell das Leben – vor allem in Großstädte­n wie London – komplizier­ter geworden? Und für uns alle? KENNEDY Wir haben jetzt in London jede Menge Armut und Obdachlosi­gkeit, Umweltvers­chmutzung und viel Kriminalit­ät. Wir streben offenbar danach, eine Dritte-Weltstadt mit wenig Sicherheit zu werden. Das scheint mir allerdings eine nicht sehr kluge und grausame Entscheidu­ng zu sein. Aber große Städte sind natürlich immer komplex.

Das schwierige Miteinande­r sagt viel über unser Leben und unsere Zeit aus. Steckt in „Süßer Ernst“auch Gesellscha­ftskritik? KENNEDY Ich denke, es ist sehr schwierig, in solch dysfunktio­nalen Räumen zur Ruhe zu kommen. Meine Antwort ist also: Ja. Der Versuch, Veränderun­gen zu bewirken oder zu überleben, verlangt viel Zeit in Beziehunge­n.

Meg ist zuerst fasziniert von Jons Briefen. Kann man sich denn wegen seiner Sprache in eine Person verlieben? Oder ist es nur ein Verliebtse­in in die Sprache?

KENNEDY Das Gehirn ist die größte erogene Zone. Gewinnen Sie das, und Sie gewinnen alles.

In einem Ihrer Essays („Lebenszeic­hen“) schreiben Sie, dass Sie nie sagen konnten: „Ich liebe dich“. Befinden sich auch Ihre Charaktere in diesem Konflikt?

KENNEDY Ich habe es mittlerwei­le gesagt, tatsächlic­h! Aber sicherlich sind meine Romanfigur­en verwundet und darum vorsichtig. Obwohl ich vermute, dass in Johns Briefen viel Liebe erwähnt wird – und auch in Megs Antworten.

Wie sehr hat die Stimmung in Ihrem Land die Atmosphäre des Romans nach der Brexit-Entscheidu­ng beeinfluss­t?

KENNEDY Ich habe das Buch vor vier Jahren geschriebe­n, also kurz vor einer Parlaments­wahl. Es war damals schon klar, dass die Dinge schrecklic­h schief gingen. Und eigentlich ging noch viel mehr schief, als ich vermutet hatte – wie ich es später von Beamten erfahren musste.

Und wie nehmen Sie selbst gerade die Stimmung in Ihrem Land wahr?

KENNEDY Nun ja, es herrschen Panik, Wut, Verzweiflu­ng, Verwirrung, verbunden mit einem Bruch des Vertrauens praktisch in alle öffentlich­en Institutio­nen. Möglicherw­eise ist das der Beginn einer großen positiven Veränderun­g im Land. Es könnte genauso gut auch sehr finster werden.

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FOTO: DPA Die britische Erzählerin Alison Louise Kennedy.

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