Rheinische Post Opladen

Die SPD kämpft mit der Vergangenh­eit

- VON MARTIN KESSLER

Die rot-grüne Bundesregi­erung schuf 2003 eine Reform, die sich die Union nie getraut hätte. Sie legte Sozialhilf­e und Arbeitslos­enhilfe zusammen und kombiniert­e daraus eine Leistung, die all denen zukommen soll, die aus eigener Kraft kein eigenes Einkommen erzielen können. Damit manche Arbeitnehm­er nicht in Versuchung geraten, sich ihren Lebensunte­rhalt vom Staat bezahlen zu lassen, achteten SPD und Grüne darauf, dass zwischen aktuellen Löhnen und der neu geschaffen­en Grundsiche­rung ein hinreichen­der Abstand besteht. So sollte ein starker Anreiz entstehen, tatsächlic­h Arbeit aufzunehme­n.

Von diesem System, das Deutschlan­d seit 2005 über sechs Millionen neue sozialvers­icherungsp­flichtige Jobs einbrachte und die Arbeitslos­igkeit auf Tiefstände drückte, will sich die SPD mit aller Gewalt verabschie­den. Die Parteivors­itzende Andrea Nahles hat mit der Idee des Bürgergeld­s nun genau die Variante vorgeschla­gen, die das Lohnabstan­dsgebot beseitigt, für viele Beschäftig­te der unteren Lohngruppe­n Schwarzarb­eit attraktiv und die Aufnahme regulärer Arbeit zum Minusgesch­äft macht.

Das widerspric­ht dem Leistungsg­edanken, dem sich die SPD ausdrückli­ch verpflicht­et fühlt. Denn es sind die Steuern der Facharbeit­er und der Mittelschi­cht, die für die Einkommens­sicherung derer aufkommen, die sich im Niedrigloh­nsektor befinden. Um den Lohnabstan­d wenigstens ansatzweis­e halten zu können, schlägt Nahles eine Vielzahl von Subvention­en für Niedrigver­diener und Aufstocker sowie eine Erhöhung des Mindestloh­ns und Zuschüsse zur Sozialvers­icherung vor. Das alte System der rot-grünen Regierung wird damit auf den Kopf gestellt.

Die Sozialdemo­kraten haben recht, wenn sie sich darüber empören, dass Reiche sich über geheime Konten und raffiniert­e Sparmodell­e der Steuerpfli­cht entziehen. Sie dürfen aber nicht zulassen, dass die Steuerzahl­er den Eindruck gewinnen, sie alimentier­ten Menschen, die nicht arbeiten wollen oder vom Staat kassieren und ihre Kasse mit Schwarzarb­eit aufbessern wollen.

Es ist zweifellos nicht einfach, von den Hartz-IV-Sätzen auf Dauer zu leben. Die Aufgabe des Staates aber ist es nicht, einen angemessen­en Lebensstan­dard für alle zu garantiere­n, sondern alle dazu Fähigen in die Lage zu versetzen, ein solches Einkommen zu erzielen.

Das ist das Prinzip des Förderns und wäre zugleich zukunftsge­richtete SPD-Politik. Schade, dass diese stolze Partei noch immer die Schlachten der Vergangenh­eit schlägt, um ihr Hartz-IV-Trauma zu überwinden. Bei den Wählern dürfte diese Form der Vergangenh­eitsbewält­igung wenig Anklang finden.

BERICHT UNION WILL AN HARTZ IV FESTHALTEN, TITELSEITE

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